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Wir brauchen ein mentales Immunsystem

Gestern erhielt ich in einer Whatsapp-Gruppe eine weitergeleitete Nachricht, die mit den Worten begann: Ein italienischer Arzt, der in einem Shenzhener Krankenhaus in China arbeitete ... Mir war schon beim Lesen dieser Worte klar, dass es sich dabei um einen Kettenbrief handelte, der höchstwahrscheinlich Falschinformationen zum Coronavirus enthielt, und so war es auch.

Ich wies die Person, die die Meldung verschickt hatte, in deutlichen Worten darauf hin, dass sie damit potenziell großen Schaden anrichtete und sie sich gefälligst bei offiziellen Stellen wie dem Robert-Koch-Institut informieren sollte, bevor sie solche Mails einfach weiterleitete. Das hat in diesem konkreten Einzelfall hoffentlich geholfen. Doch natürlich ist damit die Epidemie an Desinformation nicht gestoppt, die schon seit Jahren das Internet verseucht und auf lange Sicht wahrscheinlich weit mehr Schaden anrichtet als das Coronavirus.

Warum konnte ich die Falschmeldung sofort als solche erkennen, die Person, die die Nachricht gutgläubig weiterleitete, aber nicht? Das liegt sicher nicht daran, dass ich klüger oder generell misstrauischer bin. Vielmehr hatte ich bereits so oft Kontakt mit ähnlichem Schwachsinn, dass ich bestimmte Muster erkenne, also eine Art intuitives Warnsystem besitze.

 

Die meisten dieser Kettenbriefe beginnen mit einer persönlichen Geschichte, weil wir Menschen darauf stärker reagieren und solchen Erzählungen eher vertrauen als nüchternen Fakten (ein Relikt aus unserer Jäger- und Sammler-Zeit, für die unser Gehirn optimiert ist). „Storytelling“ nennt man das im Marketing-Deutsch, und natürlich machen sich das auch Übeltäter zunutze, die aus welchen Gründen auch immer Falschmeldungen verbreiten. Hinzu kommt, dass diese Nachrichten gezielt so gestaltet sind, dass sie weitergeleitet werden – immer ist ein entsprechender Hinweis am Ende der Nachricht zu finden. Das bedeutet, dass der nächste Empfänger diese nicht von einem anonymen Spamaccount bekommt, sondern von einer Person, der er vertraut. (Im konkreten Fall hatte das Mitglied meiner Whatsapp-Gruppe die Mail von seinem Anwalt weitergeleitet bekommen, was die Glaubwürdigkeit verstärkte. Die Person braucht wohl einen neuen Rechtsbeistand.)

Ich hatte also zwei Indikatoren, die mich aufhorchen ließen: „Storytelling“ und „Weiterleitung“. Da war es dann kaum noch nötig, die Inhalte mit einem der Faktenchecker im Internet zu überprüfen; ich habe es trotzdem getan, weil ich mir selbst nicht ganz sicher war, was nun an der kruden Mischung aus Falschinformation und Fakten stimmte und was nicht (Antwort: fast nichts). Ich habe also die Falschinformation anhand der Form identifiziert, nicht am Inhalt. Aber das funktioniert nicht immer, auch ich bin schon auf Unfug hereingefallen oder habe seriöse Nachrichten für solchen gehalten.

Spamschutzprogramme im Internet arbeiten ähnlich. Sie berücksichtigen eine Vielzahl von Kriterien, um Spam als solchen zu erkenne, können aber natürlich den Inhalt nicht verstehen. Dementsprechend oft liegen sie daneben – ich habe es mir angewöhnt, jeden Tag in meinen Spamordner zu sehen, weil darin immer wieder wichtige Mails meiner Kontakte verschwinden. Künstliche Intelligenz kann uns also dabei helfen, solchen Informationsmüll zu erkennen, aber das Problem nicht allein lösen. Umgekehrt wird KI auch eingesetzt, um Desinformation zu generieren und sie geschickt an diejenigen auszuspielen, die besonders empfänglich dafür sind.

Was wir brauchen, ist ein mentales Immunsystem. Wir müssen ein besseres Gefühl dafür entwickeln, wann wir digital übers Ohr gehauen werden sollen. Wir müssen misstrauischer werden, besonders gegenüber Inhalten in sozialen Medien. Wir müssen uns angewöhnen, ungewöhnliche oder aufmerksamkeitsstarke Behauptungen zu überprüfen, besonders, wenn wir uns wünschen, sie wären wahr. Das ist in Zeiten, in denen sogar der US-Präsident gezielt Falschmeldungen verbreitet und seine Partei Verschwörungstheoretiker ins Parlament entsendet, mindestens so wichtig wie gründliches Händewaschen. Und es beugt auch den Versuchen vor, KI einzusetzen, um das menschliche Gehirn zu "hacken".

Hier sind alle gefordert: Politiker, Lehrer, Schriftsteller, Eltern, jeder von uns. Wir dürfen Null Toleranz gegenüber Falschinformationen zeigen und müssen auch denjenigen, die Kettenbriefe weiterleiten oder auf ihren Blogs und Twitteraccounts erwiesenen Unsinn verbreiten, klar und deutlich (aber respektvoll) sagen, was wir davon halten. Das Recht auf freie Meinungsäußerung hört dort auf, wo Menschen gezielt getäuscht werden sollen oder Menschenleben in Gefahr sind.


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Kommentare: 2
  • #1

    Heinrich (Donnerstag, 19 März 2020 14:26)

    Danke lieber Karl, dass Du versuchst, das Treiben gedankenloser oder gar dummer Menschen zu stoppen. Mit dem Internet und Diensten wie Facebook, Whatsapp usw haben wir nicht nur eine Informationsflut, sondern eben auch eine Potenzierung von Falschmeldungen.
    Diese Entwicklung ist vermutlich noch um ein Vielfaches schwieriger zu stoppen als alle bekannten und noch unbekannten Virenarten.
    Die Fakepandemie ist zwar nicht tödlich aber richtet immensen Schaden an.
    Eine Pandemie zu überleben ist ja prima, aber ein Planet voller verdorbener Menschen ist auch nicht erstrebenswert.
    Irgendwie habe ich meinen Optimismus völlig verloren, freue mich aber, dass Menschen wie Du immer noch Kraft haben, Menschen aufzuklären.
    Gruß Heinrich

  • #2

    Karl Olsberg (Donnerstag, 19 März 2020 16:28)

    @Heinrich: Es stimmt, gegen Desinformation gibt es noch keine wirksame Impfung und der Schaden ist wirklich immens (siehe die Erfolge der Populisten überall auf der Welt in den letzten Jahren). Die Fakepandemie ist in meinen Augen durchaus auch tödlich: Trumps Verharmlosung des Coronavirus dürfte in den nächsten Monaten hunderttausende Amerikaner ihr Leben kosten.

    Die gute Nachricht ist: Fake News sind nichts Neues (Goebbels hätte Twitter geliebt!), mit vereinten Kräften kann es uns gelingen, sie zu entlarven und der Vernunft zu neuem Recht zu verhelfen. Das Coronavirus könnte sich insofern auch als heilsamer Schock erweisen. Denn nichts zieht Populisten so sehr den Teppich unter den Füßen weg wie ein harter Zusammenprall ihrer Verharmlosungen udn leeren Versprechungen mit der Realität. Das ist zumindest meine Hoffnung für den weiteren Verlauf des Jahres.