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Werden wir vom „Überwachungskapitalismus“ ferngesteuert?

Vor Kurzem hat die ehemalige Harvard-Wirtschaftsprofessorin Shoshana Zuboff in der New York Times einen provokanten Kommentar mit dem Titel „You Are Now Remotely Controlled“ (Sie sind ab jetzt ferngesteuert) veröffentlicht. Darin stellt sie ihr Modell des „Überwachungskapitalismus“ vor, bei dem wir ahnungslosen User von den datengetriebenen Giganten aus Silicon Valley rücksichtslos manipuliert werden. Dies ist auch Gegenstand ihres Buches „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ (das ich bis jetzt noch nicht gelesen, aber auf meiner Leseliste habe).

Auch, wenn mir der Artikel insgesamt etwas einseitig erscheint – datengetriebene Unternehmen wie Amazon, Facebook oder Google werden hier pauschal als hinterlistig und gegen unsere Interessen agierend dargestellt –, hat Zuboff definitiv einen Punkt. Die Art, wie Unternehmen unsere Daten sammeln, hat tatsächlich etwas von dem „Einwegspiegel“, den sie in ihrem Beitrag als Metapher verwendet: Wir werden bis ins kleinste Detail beobachtet, ohne uns dessen bewusst zu sein. Was mit den aus diesen Beobachtungen gewonnenen Daten geschieht, entzieht sich unserer Kenntnis, geschweige denn Kontrolle. Zwar haben wir in Europa ein gegenüber den Vereinigten Staaten deutlich schärferes Datenschutzrecht, aber wer liest sich schon tatsächlich die Datenschutzerklärungen aller Webseiten und Dienste durch, die er benutzt? Und wer versteht wirklich die Konsequenzen dessen, was die Algorithmen mit uns machen?

Zuboffs „Überwachungskapitalismus“ ist im Grunde nichts anderes als die praktische Anwendung von Yuval Hararis „Mindhack-Formel“ B*C*D=AHH: Unternehmen benutzen ihr Wissen über menschliche Psychologie, ihre enorme Rechenleistung und die gigantischen Datenmengen, die sie über uns sammeln, um unsere „Gehirne zu hacken“. Dann verkaufen sie diese Fähigkeit buchstäblich an den Meistbietenden weiter – ob das nun ein Kosmetikhersteller, ein Online-Spielcasino oder ein politisch motivierter Meinungsmanipulator ist.

Ganz neu ist dieses Vorgehen freilich nicht. Schon seit Jahrzehnten nutzen Unternehmen und Politiker alle möglichen psychologischen Tricks, um unser Verhalten zu manipulieren. Sie verlocken uns mit optischen Reizen, die gezielt unsere animalischen Triebe ansprechen, versuchen, uns Schuldgefühle einzureden, verändern unsere Bewertungsmaßstäbe mit „Priming“ oder setzen uns mit Countdowns und zeitlich befristeten Sonderangeboten unter Druck. Und natürlich werden diese Tricks mittels Marktforschung an ahnungslosen Konsumenten getestet. Insofern war der Kapitalismus schon immer höchst manipulativ.

Neu ist allerdings, dass dieses Mindhacking immer besser auf jeden einzelnen User zugeschnitten und somit auch immer effektiver ist. Und wir stehen erst am Anfang der Lernkurve der manipulativen Maschinen, die zudem sehr steil verläuft, da Computer viel schneller lernen als Menschen, ihr Wissen nicht einfach wieder vergessen und es sehr effizient untereinander austauschen können.

Ob man es nun „Überwachungskapitalismus“, „Turbokapitalismus“ oder einfach „digitale Marktwirtschaft“ nennt: Das (Un-)Gleichgewicht der Kräfte verschiebt sich von den Konsumenten zu denjenigen, die deren Verhalten immer besser prognostizieren und beeinflussen können. Mag sein, dass der Kunde immer noch „König“ ist, doch er wird immer mehr zu einem schwachen Herrscher ohne eigene Meinung, umgeben von korrupten Beratern, die ihm allen möglichen Unsinn ins Ohr flüstern. Jedenfalls, wenn er das mit sich machen lässt.

Es liegt immer noch in unserer Hand, uns gegen die Fremdsteuerung zu wehren. Wir entscheiden, welche Dienste wir nutzen und wie viel Zeit wir mit ihnen verbringen. Wir können allerdings nur in geringem Maße darüber entscheiden, ob wir uns von der Manipulation dort beeinflussen lassen – diese Beeinflussung erfolgt meistens unbewusst und ohne unsere Kontrolle, zum Beispiel durch die Auswahl der Beiträge, die wir in sozialen Medien zu sehen bekommen.  Darüber müssen wir uns stets im Klaren sein.

Wenn wir nicht einfach aufhören wollen, datengetriebene Dienste zu nutzen, brauchen wir meines Erachtens mehr externe Kontrolle darüber, was Unternehmen mit unseren Daten tun (und nicht nur, welche sie sammeln). Ähnlich, wie es Regeln gegen „unlauteren Wettbewerb“ z.B. durch irreführende Angaben auf Produktverpackungen gibt, brauchen wir mehr Regeln für die Inhalte, die uns in sozialen Medien gezeigt oder auch vorenthalten werden. Dies wird bisher unter Hinweis auf das Recht auf „freie Meinungsäußerung“ entschieden bekämpft. Doch dieses Recht darf nicht als „Recht auf freie Meinungsmanipulation“ fehlinterpretiert werden. Wir müssen uns stärker gegen Lügen, Fake News, Diffamierungen und falsche Versprechungen wehren, jedenfalls, wenn diese nicht von Privatpersonen, sondern von Organisationen (bzw. in deren Auftrag) durchgeführt werden.

Es wird sicher noch eine Weile dauern, bis die Politik sich auf entsprechende Regeln verständigt und diese durchgesetzt hat. Bis dahin haben wir Konsumenten zwei Möglichkeiten: Einerseits können wir unsere Widerstandskraft gegen die Manipulation stärken, z.B. indem wir Behauptungen im Web häufiger hinterfragen und aus verschiedenen Quellen überprüfen und indem wir uns nicht bloß aus einer Quelle informieren. Andererseits können wir aufhören, die Dienste, die uns am stärksten manipulieren, zu nutzen. Das wäre vermutlich der effektivste Weg, wirklich etwas zu verändern. Denn der Überwachungskapitalismus funktioniert, ebenso wie alle anderen Formen der Marktwirtschaft, nur, solange die Kunden mitmachen.

 

(Die Marionetten-Grafik stammt von Meul CC BY-SA 3.0)


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Kommentare: 5
  • #1

    Hanna Bertini (Sonntag, 10 Mai 2020 21:42)

    Lieber Herr Olsberg,
    Dieser Blog ist wirklich eine Quelle interessanter Erkenntnisse, vielen Dank dafür!
    Eine kleine Ergänzung zu diesem Artikel: Sie stellen es so dar, als würde Shoshana Zuboff „alte„ Erkenntnisse, u.a. von Yuval Harari wiedergeben - in der Tat ist es wohl anders herum: Zuboff ist die Pionierin in diesem Thema, die bereits 1988 die technischen Entwicklungen und ihre Kontrollmechanismen in ihrem Werk „The Age of the Smart Machine“ vorhergesagt hat, 2014 die Debatte um Google mit einem Werk zu Big Data prägte und ihr Werk „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ (das zu recht auf Ihrer Leseliste steht) stammt bereits von 2018 und ist in dieser Hinsicht breit rezipiert worden - ungeachtet dessen natürlich, dass sich viele Menschen dazu kluge Gedanken machen.
    Viele Grüße
    Hanna Bertini

  • #2

    Karl Olsberg (Montag, 11 Mai 2020 10:31)

    Liebe Frau Bertini,

    vielen Dank für Ihr Lob und den Hinweis! Meine Bemerkung, Zuboffs These sei nichts anderes als die praktische Anwendung von Hararis B*C*D=AHH war nicht so gemeint, dass sie sich auf ihn bezöge oder gar ihre Arbeit auf seiner beruhe. Ich wollte lediglich auf die Ähnlichkeit der beiden Denkansätze hinweisen. Ich kann aber nachvollziehen, dass man das leicht so lesen kann, wie Sie es interpretiert haben, und bin deshalb für die Richtigstellung dankbar.

    Herzliche Grüße

    Karl Olsberg

  • #3

    Hanna Bertini (Montag, 11 Mai 2020 12:36)

    Dann ist ja alles gut, lieber Herr Olsberg. Vielen Dank für Ihre Antwort! Meine Leseliste ist jetzt erweitert um Ihre Buchtipps - welches der Bücher empfehlen Sie denn als Einstieg für jemanden, der eher weniger technik- und matheaffin ist und trotzdem informiert sein möchte?
    Herzliche Grüße
    Hanna Bertini

  • #4

    Karl Olsberg (Montag, 11 Mai 2020 12:50)

    Liebe Frau Bertini,

    die Bücher in meiner Liste sind alle allgemeinverständlich geschrieben (ich selbst bin weder Mathematiker noch Profi auf dem aktuellen Stand der KI-Technologie). Wenn Sie keine Probleme mit der englischen Sprache haben und sich eher für die technischen Aspekte interessieren (dennoch allgemeinverständlich), würde ich Stuart Russels "Human Compatible" empfehlen. Nick Bostroms "Superintelligenz" beleuchtet das Value-Alignment-Problem sehr gründlich von der philosophischen bzw. logischen Seite und zeigt, wie schwierig es zu lösen ist. Tegmarks "Leben 3.0" liegt irgendwo dazwischen und ist etwas weniger tiefgehend als die anderen beiden, aber ebenfalls sehr lesenswert.

    Herzliche Grüße

    Karl Olsberg

  • #5

    Hanna Bertini (Montag, 11 Mai 2020 21:06)

    Lieber Herr Olsberg,

    Vielen Dank!
    Dann ist die Reihenfolge wohl nicht erheblich und ich besorge einfach direkt alle drei.

    Herzliche Grüße
    Hanna Bertini