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Alles nur Panikmache?

Die Ausbreitung des neuen Coronavirus in Europa führt zu einer Welle von Absagen großer Veranstaltungen, so auch der Leipziger Buchmesse. Desinfektionsmittel und Schutzkleidung sind knapp und werden teilweise sogar von skrupellosen Menschen gestohlen, die mit der Krise kurzfristigen Profit machen wollen. Die Börsen stürzen ab und auch ein massiver Zinssenkungsschritt der amerikanischen Notenbank scheint die Stimmung nicht nachhaltig zu verbessern. Es kommt zu ersten „Hamsterkäufen“, obwohl eine Nahrungsmittelknappheit in keiner Weise absehbar ist. Stellenweise scheint es tatsächlich zu Angstreaktionen zu kommen, obwohl meiner Beobachtung nach sowohl in den Medien als auch im täglichen Leben die Gelassenheit überwiegt.

Im selben Moment beschweren sich immer mehr Menschen lautstark über die „Panikmache“, die sie den Medien vorwerfen oder auch denjenigen, die sich für Vorsichtsmaßnahmen wie die Absage von Großveranstaltungen aussprechen. Covid-19 wird immer wieder mit einer Grippe verglichen, die bisherigen Infektionszahlen werden ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung gesetzt und als unbedeutend dargestellt.

Wer hat recht? Die Antwort lautet: Wir wissen es nicht, denn die Coronavirus-Epidemie in Europa steht noch ganz am Anfang und in anderen Teilen der Welt ist die Datenlage extrem unzuverlässig. Aber höchstwahrscheinlich sind Angstreaktionen ebenso falsch wie eine Verharmlosung dieser Epidemie, bei der zwar das individuelle Risiko, schwer zu erkranken, gering sein mag, die Belastung für unser Gesundheitssystem insgesamt und die Infektionsgefahr für Ärzte, Pfleger und Risikopersonen dagegen groß ist.

Eines wird allerdings deutlich: Wir Menschen sind sehr schlecht darin, solche unbekannten Risiken richtig einzuschätzen und rational damit umzugehen. Die einen geraten in Panik, die anderen verharmlosen die Situation. Vor allem aber sind wir viel zu sehr auf die Gegenwart fixiert, um uns ausreichend  auf ähnliche zukünftige Risiken vorzubereiten, wozu ich auch die Risiken durch künstliche Intelligenz zähle. Mir persönlich ist jedenfalls schleierhaft, warum uns erst jetzt auffällt, dass wir für den Fall einer Pandemie keine ausreichenden Reserven für Schutzkleidung, Desinfektionsmittel und dringend benötigte Medikamente haben, obwohl seit Jahrzehnten bekannt ist, dass wir mit so etwas früher oder später rechnen mussten. Es zeigt sich, dass wir uns durch einen einseitigen Fokus auf Kostensenkungen – in der Industrie wie im Gesundheitswesen – viel zu abhängig von globalen Lieferketten gemacht haben, die sich nun als äußerst fragil herausstellen.

Während meines Studiums in den Achtzigerjahren hatte ich ein Bewerbungsgespräch für ein Praktikum bei einer Unternehmensberatung. Mein Gesprächspartner fragte mich, was ich über „Just-in-Time-Fertigung“ wisse. Das Thema war schon damals in der Wirtschaft en vogue, wurde jedoch an unserer Universität noch nicht gelehrt und ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Also improvisierte ich und sagte aus dem Bauch heraus: „Das halte ich für eine schlechte Idee, denn wenn man alles erst im letzten Moment liefert, ist die Produktion ziemlich anfällig gegen Störungen.“ Später war mir die Antwort peinlich, denn sie entsprach überhaupt nicht dem herrschenden Zeitgeist und den Erwartungen meines Gesprächspartners (ich habe das Praktikum trotzdem bekommen); sie war nur meiner Unwissenheit geschuldet. Heute weiß ich, dass ich intuitiv recht hatte: Extreme Effizienz geht zu Lasten der Resilienz im Fall einer schweren Systemstörung.

Das Coronavirus könnte sich, sofern die Epidemie relativ milde verläuft, mittelfristig als heilsamer Schock für unser global vernetztes System erweisen. Es legt unbarmherzig Schwachstellen offen und zeigt uns, dass unsere Notfallpläne und Vorsorgestrategien nicht ausreichen. Hoffentlich lernen wir daraus, so dass wir auf die nächste Pandemie, die garantiert kommen wird, besser vorbereitet sind.

Als Anfang Februar deutlich wurde, dass sich die Epidemie nicht auf China beschränken würde, machte ich mir Gedanken darüber, ob ich mich und meine Familie auf eine Extremsituation vorbereiten müsste, die damals zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich erschien. Ich fand heraus, dass es eine Empfehlung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zur Anlegung eines permanenten Notvorrats für zehn Tage gibt. Obwohl ich nicht mit einer Versorgungsknappheit durch das Coronavirus rechnete, beschlossen meine Frau und ich, der Empfehlung zu folgen, und legten einen Vorrat an haltbaren Lebensmitteln an, lange bevor die Medien über „Hamsterkäufe“ berichteten. Eine unserer Überlegungen war es, dass wir dadurch, falls es doch einmal zu einer Knappheit kommen sollte, diese nicht auch noch verschlimmern würden, denn wir müssten dann eben nicht in den Supermarkt stürmen, wenn alle anderen es täten.

 

Man kann über diese Maßnahme die Nase rümpfen oder den Kopf schütteln, aber wir haben sie nicht aus Angst, sondern aus nüchterner Überlegung heraus umgesetzt. Das Coronavirus war nicht der Grund dafür, sondern der Anlass, eine längst überfällige Vorsorgemaßnahme zu treffen, empfohlen von Fachleuten, die versuchen, uns möglichst gut auf unwahrscheinliche, aber nicht unmögliche Ereignisse vorzubereiten. Heute bin ich froh darüber, obwohl – oder gerade weil – ich die aktuellen Hamsterkäufe für unnötig und übertrieben halte.

Das beste Mittel gegen Panik ist gute Vorbereitung.


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