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Vorsicht Exponentialfunktion!

Als ich mich Mitte Februar zum ersten Mal mit dem Coronavirus beschäftigte, traten mir die Sorgenfalten auf die Stirn. Anfang März bastelte ich mir ein Excel-Spreadsheet, trug die bis dahin vom Robert Koch-Institut bekannt gegebenen Fallzahlen ein, berechnete die Ausbreitungsrate und rechnete sie hoch. Seitdem aktualisiere ich die Zahlen einmal am Tag, vergleiche die tatsächlichen Fallzahlen mit meiner Prognose und passe ggf. die Wachstumsrate des Modells an.

 

Anfang März hatten wir in Deutschland weniger als 1.000 bekannte Covid-19-Fälle. Mein Modell sagte für Ende des Monats einen Anstieg auf knapp 60.000 Fälle voraus, für Ende April 14 Millionen Fälle. Zum Glück behielt ich nicht recht: Tatsächlich wurde meine Prognose bis Ende März sogar übertroffen, doch dann wirkten die von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen und bremsten die Wachstumsrate, die Anfang März bei über 20% pro Tag gelegen hatte, auf heute ca. 0,5%. Die 14 Millionen für Deutschland prognostizierten Covid-19 Fälle, die aus heutiger Sicht absurd hoch erscheinen, hätten wir – zumindest der Größenordnung nach - tatsächlich erreicht, wenn diese Maßnahmen nicht ergriffen worden wären.  Von einer „Herdenimmunität“, die die Ausbreitung wirksam ausgebremst hätte, wären wir immer noch ein gutes Stück entfernt gewesen. Bei einer angenommenen Sterblichkeit von 1% hätten wir 140.000 Todesopfer zu beklagen gehabt statt tatsächlich knapp 8.000.

 

Man kann also mit gutem Grund sagen, dass die Maßnahmen, so bitter und kostspielig sie auch waren, höchstwahrscheinlich über 100.000 Menschen das Leben gerettet haben. Das Problem jedoch ist, dass diese Zahl theoretisch ist – sie ist zum Glück (noch) nicht eingetreten. Was hätte sein können, erscheint uns wenig greifbar, zumal sich die Fallzahlen exponentiell entwickelt hätten.

 

Wir Menschen sind einfach nicht gut darin, uns exponentielle Entwicklungen vorzustellen. Unser Gehirn ist dafür nicht ausgelegt, denn es wurde für die Welt unserer Vorfahren optimiert, in der es kaum exponentielle Entwicklungen gab. Natürlich breiteten sich auch in der Urzeit schon Krankheiten exponentiell aus, aber es war für das Überleben nicht wichtig, diese Entwicklung korrekt zu prognostizieren. Stattdessen mieden unsere Vorfahren einfach andere Menschen, wenn diese Krankheitssymptome zeigten – ein Vorläufer des modernen „Social Distancing“, der durchaus effektiv war.

 

Dieses Unvermögen, uns exponentielle Entwicklungen vorzustellen, verleitet uns dazu, Gefahren zu unterschätzen. So ist zu erklären, dass die Virologen, die sich täglich mit Exponentialfunktionen beschäftigen, betrübt auf die Sorglosigkeit blicken, die aktuell um sich greift. Wir haben das Gefühl, das Coronavirus „im Griff“ zu haben. Doch das ist ein gefährlicher Irrtum.

 

Dazu ein paar Zahlen: Wenn die Wachstumsrate der Fallzahlen von aktuell 0,5% konstant bliebe, dann hätten wir Ende Juni insgesamt ca. 218.000 Infektionen und vermutlich ca. 10.000 Todesopfer zu beklagen. Steigt die Wachstumsrate aufgrund der Lockerungen ab morgen auf 1% pro Tag, reden wir bereits über 275.000 Fälle. Die in den nächsten Wochen zu erwartenden zusätzlichen Fälle gegenüber dem heutigen Stand von ca. 172.000 würden sich von 46.000 auf 103.000 mehr als verdoppeln. Stiege die Ausbreitungsrate des Virus jedoch wieder auf den Wert von 8% pro Tag, den sie am 31. März hatte, hätten wir Ende Juni bereits über 6,4 Millionen Covid-19-Fälle!

 

Exponentialfunktionen begegnen uns heute nicht nur bei der Ausbreitung von Seuchen wie Covid-19. Auch die Entwicklung der künstlichen Intelligenz folgt einer solchen Exponentialfunktion. Das ist der Grund dafür, dass ich bereits früher als die meisten Menschen in meinem Umfeld ahnte, was mit dem Coronavirus auf uns zukommt: Ich beschäftige mich seit Jahren mit der exponentiellen Entwicklung der Computerleistung und weiß daher nur zu gut, wie überraschend solche Trends erscheinen können.

 

Ich benutze in Vorträgen gern das Beispiel des „exponentiellen Säbelzahntigers“. Ein gewöhnlicher Säbelzahntiger bewegt sich linear, d.h. wenn er einmal beschleunigt hat, rennt er mit mehr oder weniger konstanter Geschwindigkeit auf seine Beute, einen unserer Vorfahren, zu. Das menschliche Gehirn ist sehr gut darin, solche Bewegungen intuitiv einzuschätzen. Wenn der Säbelzahntiger noch 100 Meter entfernt ist und 10 Meter pro Sekunde zurücklegt, dann weiß der Urmensch auch ohne Taschenrechner intuitiv, dass ihm nur noch wenig Zeit bleibt. Er kann sogar recht gut einschätzen, ob er es noch bis auf den Baum in der Nähe schafft oder lieber in Kampfstellung gehen sollte.

 

Ein Säbelzahntiger, der sich exponentiell bewegt, wäre dagegen ungleich schwerer einzuschätzen. Wenn wir annehmen, dass er für dieselbe Strecke insgesamt dieselbe Zeit braucht, aber seine Geschwindigkeit in jeder Sekunde verdoppelt, dann würde er sich in der ersten Sekunde so langsam bewegen, dass man es aus der Entfernung gar nicht wahrnehmen würde. Nach fünf Sekunden – der Hälfte der Zeit – hätte er sich erst knapp vier Meter weit bewegt und würde so rasant wirken wie eine Schildkröte. Erst nach sechs, sieben Sekunden nimmt er Fahrt auf. Nach acht Sekunden – das Raubtier ist immer noch 75 Meter entfernt – erkennt unser Vorfahr, dass er in Gefahr ist. Nach 9 Sekunden sprintet er los, doch es ist viel zu spät – die restlichen 50 Meter legt der Säbelzahntiger in nur einer Sekunde zurück und ist am Ende schneller als ein Formel-1-Wagen.

 

Covid-19 ist so ein „exponentieller Säbelzahntiger“, der uns mit der Wucht seines Angriffs überrascht hat. Wir müssen den Virologen dankbar sein, dass sie sich nicht auf ihre Intuition verlassen haben, sondern auf die Mathematik, und uns so rechtzeitig warnen konnten.

 

Die Entwicklung künstlicher Intelligenz folgt einer ähnlichen Dynamik. Eine jüngst erschienene Forschungsarbeit, die die Entwicklung der Effizienz von KI-Algorithmen untersuchte, kommt zu dem Schluss, dass sich die Rechenleistung, die für große KI-Anwendungen zur Verfügung stand, zwischen 2012 und 2018 um den Faktor 75 Millionen(!) gesteigert hat. Gleichzeitig wurden bestimmte Algorithmen in diesem Zeitraum 44-mal effizienter.

 

Es könnte sein, dass die Auswirkungen dieser neuen Technologien noch viel gravierender und langfristiger sind als die der aktuellen Pandemie. Vielleicht sollten wir etwas mehr Zeit und Kapazität darauf verwenden, uns damit zu beschäftigen, ehe uns der exponentielle KI-Säbelzahntiger erwischt.


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Kommentare: 6
  • #1

    Heinrich (Sonntag, 17 Mai 2020 22:21)

    Danke Karl, für diese fundierten Erläuterungen. Ich hoffe sehr, dass viele es lesen und weitergeben an die, die sich schon in Sorglosigkeit geflüchtet haben.
    Gruß Heinrich

  • #2

    Karl Olsberg (Montag, 18 Mai 2020 10:33)

    @Heinrich: Ich fürchte, gerade diejenigen, die sich in Sorglosigkeit flüchten, wird man nicht zu den Lesern dieses Blogs zählen können. Schon die URL ki-risiken.de dürfte da abschreckend wirken, und von menschlicher Dummheit wollen solche Leute in der Regel auch nichts hören. ;)

  • #3

    Heinrich (Montag, 18 Mai 2020)

    @Karl: Dann müssen wir sie irgendwie überlisten.
    Köder auswerfen.
    - Es gibt was umsonst (Geiz ist geil)
    - Hier lauert ein Skandal (Neugier)
    - Schnell und ohne Mühe die überflüssigen Kilos loswerden!
    (Eine amerikanische Studie hat ergeben, dass alle Menschen, die sich häufig die Hände waschen, Atemmasken tragen, Abstand halten und alle RKI Empfehlungen beachten, in kürzester Zeit ihre Speckrollen verlieren.

    ... oder so?! ;)

    Gruß Heinrich

  • #4

    Karl Olsberg (Montag, 18 Mai 2020 19:57)

    @Heinrich: Ich glaube, am effektivsten wäre eine neue Verschwörungstheorie: "Thrillerautor deckt auf: Bill Gates ist eine KI" oder "Impfflicht gegen Computerviren - wehrt euch jetzt!"

  • #5

    Heinrich (Montag, 18 Mai 2020 21:52)

    Genial! Das isses! :)

  • #6

    Heinrich (Samstag, 23 Mai 2020 13:57)

    Da haben wir es schwarz auf weiß!
    (c't Heft 12 Seite 11 Bildunterschrift - Chef ruft ins Labor runter)

    "Es ist soweit.
    Das Training unserer KI zur erweiterten Gesichtserkennung ist abgeschlossen.
    Der Algorithmus erkennt nun auch verschleierte und maskierte Gesichter.
    Sie können die Operation Corona abbrechen."