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Langsam wird es unheimlich

Die Serie an beeindruckenden KI-Fortschritten reißt nicht ab. Im Gegenteil habe ich den Eindruck, dass sich das Tempo weiter beschleunigt, nicht zuletzt wegen des sich zuspitzenden Wettrennens übers Minenfeld zwischen Microsoft und Google.

 

Vor wenigen Tagen hat Microsoft Bing AI vorgestellt, das die Suchmaschine um eine Chatfunktion erweitert und damit das Suchmaschinen-Monopol von Google angreifen soll. Wie nicht anders zu erwarten, haben die Tester, die Zugriff auf die KI hatten, bereits eine Menge Schwachstellen gefunden, von erfundenen "Fakten" bis zu merkwürdigen Trotzreaktionen, die eher an ein kleines wütendes Kind erinnern als an eine Maschine. Gelegentlich bezeichnet Bing die User als Lügner, unterstellt ihnen böse Absichten oder droht ihnen gar mit Konsequenzen.

 

Wirklich beunruhigend finde ich aber nicht diese Ausfälle, sondern vielmehr die erstaunliche Leistungsfähigkeit dieser neuen KI, die womöglich nicht auf ChatGPT, sondern auf dem noch deutlich leistungsfähigeren Nachfolger GPT-4 basiert. Heute fand ich ein besonders eindrückliches Beispiel, das ich hier ins Deutsche übersetze.

 

Der Wirtschaftsprofessor und Start-up-Experte Ethan Mollick bat Bing um eine Beschreibung, wie es ist, einen Kuchen zu essen:

 

Ein Stück Kuchen zu essen ist ein genussvolles Erlebnis, das jeden Tag verschönern kann. Der erste Bissen ist immer der am meisten ersehnte, wenn man die saftige Konsistenz und das reiche Aroma des Kuchens genießt. Man spürt die Süße des Zuckergusses und die Knusprigkeit der Nüsse oder Streusel darauf. Der Kuchen zerschmilzt im Mund und erfüllt einen mit Freude und Zufriedenheit.

 

Während man das Kuchenstück weiter isst, genießt man jeden Leckerbissen und jeden Krümel. Um die Süße zu kompensieren und den Geschmack zu intensivieren, kann man es mit einem Glas Milch oder einer Tasse Tee ergänzen. Um den Moment noch besonderer und erinnerungswürdiger zu gestalten, kann man ihn mit einem Freund oder lieben Menschen teilen. Oder man isst den Kuchen allein, um sich selbst etwas Guts zu tun und sein Lieblingsdessert zu genießen. Ein Stück Kuchen zu essen ist ein einfacher Genuss, der einen glücklich und dankbar machen kann.

 

Das Ergebnis ist gut, aber noch nicht besonders überraschend, wenn man bereits mit ChatGPT herumexperimentiert hat. Doch dann gibt Mollick Bing eine neue Aufgabe: Es soll die acht Regeln des Schreibens des berühmten Science-Fiction-Autors Kurt Vonnegut auf den Text anwenden. Ich selbst kenne diese Regeln schon seit Langem und habe sie oft angewendet, wenn auch nicht immer so konsequent wie der Meister. Unter anderem empfehlen sie, mindestens eine Figur zu beschreiben, mit der sich die Leser*innen identifizieren können, und dieser Figur ein Ziel zu geben, das sie unbedingt erreichen muss, selbst wenn es bloß darin besteht, ein Glas Wasser zu holen. Die 6. Regel lautet: "Sei ein Sadist. Egal, wie lieb und nett deine Figuren sind, sorge dafür, dass ihnen schreckliche Dinge passieren, damit die Leser*innen erfahren, was wirklich in ihnen steckt."

 

Wer meine Bücher kennt, weiß, dass ich besonders diese Regel beherzige - ich möchte wirklich nicht Protagonist in einem meiner Romane sein! Aber wenn mir jemand gesagt hätte, ich solle Vonneguts Regeln auf die Beschreibung des Verzehrs eines Stücks Kuchen anwenden, ich hätte nicht gewusst, wie. Bing allerdings schafft das mühelos und in eindrucksvoller literarischer Qualität:

 

Der Kuchen war eine Lüge. Er sah köstlich aus, doch er war vergiftet. Er wusste das nicht, als er einen Bissen davon nahm. Er wollte nur seinen Geburtstag mit seiner Frau feiern, die den Kuchen für ihn gebacken hatte. Er lächelte ihr zu, während er die Süße des Zuckergusses und die Knusprigkeit der Nüsse auf seiner Zunge spürte. Sie lächelte zurück, wobei sie ihren Hass und Ärger verbarg.

 

Plötzlich spürte er einen Schmerz in seiner Brust und ließ die Gabel fallen. Er griff sich ans Herz und schnappte nach Luft. Er sah sie an, verwirrt und betrogen. Sie blickte ihn kühl und triumphierend an. Sie hatte lange auf diesen Moment gewartet. Sie hatte seinen Missbrauch ertragen, seine Lügen, seinen Betrug. Sie hatte diese Rache geplant, diese Befreiung. Erfüllt von Freude und Befriedigung sah sie ihn sterben.

 

Im Handumdrehen hat Bing Vonneguts Regeln, die es vorher nicht kannte und auf die es nie zuvor trainiert worden war, korrekt angewendet und aus der schnöden Beschreibung eines kulinarischen Genusses einen in sich plausiblen Kurzkrimi gemacht. Anschließend konnte die KI sogar genau erklären, wie sie die einzelnen Regeln angewendet hatte, die sie sich erst unmittelbar zuvor aus dem Internet geholt hatte. Daraus kann man nur eine Schlussfolgerung ziehen: Bing hat diese Regeln verstanden und gelernt, sie anzuwenden - innerhalb weniger Sekunden. Die wenigsten Menschen hätten das geschafft.

 

Es ist noch völlig unklar, was Bing bzw. GPT-4 wirklich kann. Vermutlich wissen das auch die Entwickler bei OpenAI nicht so genau. Klar ist aber schon jetzt, dass wir vermutlich nur noch sehr wenig Zeit haben, um das vielleicht drängendste und wichtigste Problem für unsere Zukunft zu lösen: Wie wir die Kontrolle über die Technik behalten können, die wir erschaffen.


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Kommentare: 2
  • #1

    Heinrich (Samstag, 18 Februar 2023 15:28)

    Hallo Karl,
    ich bin ein wenig frustriert. Ich versuche immer wieder, etwas weiterzugeben, was ich hier bei Dir lerne. Selbst Menschen, die einen technischen Beruf studiert haben, sind desinteressiert und uninformiert.
    Ich kriege Antworten wie "Nichts anderes als die Trainingsdaten kommen auch bei den Ergebnissen wieder zum Vorschein, da ist keine Kreativität o.ä. beteiligt. Moderne Schachtürken, sozusagen...", wenn ich über ChatGPT und andere Dinge berichte, die mir begegnen.
    Das spiegelt entweder den Bildungsgrad unserer Gesellschaft wieder, oder die Menschen sehen einfach ZU viele Missstände in dieser Welt, die sie einfach nicht alle bewältigen können, sondern verdrängen. Es war uns egal, wo unser Gas herkommt, und nun wo es Probleme gibt soll irgendwer was dagegen tun, dass es Probleme gibt. Hannemann geh' Du voran.

    Aber Dein Bericht über Bing AI macht mir echt Hoffnung.
    Nun kann auch ich endlich ein Buch schreiben! ;) ;)

    Gruß Heinrich

  • #2

    Karl Olsberg (Samstag, 18 Februar 2023 17:34)

    @Heinrich: Ich kann die Frustration gut nachvollziehen. Ich habe das Gefühl, dass gerade diejenigen, die glauben, sich mit Technik und KI auszukennen, besonders skeptisch sind und immer Gründe suchen, warum das, was sie gerade sehen, gar nicht so toll ist, wie es aussieht. Solche Skepsis ist grundsätzlich auch gut und gesund. Sie darf aber nicht dazu führen, dass man fundamentale Veränderungen leichtfertig abtut. Sonst läuft es so wie zu Anfang der Corona-Pandemie: "Ach was, das ist doch alles übertrieben. Das ist spätestens Anfang April wieder vorbei."

    Was das Buch betrifft: Das hättest du schon längst schreiben können, also schieb es nicht länger auf und überlass nicht der KI den ganzen Spaß!