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Zehn Haare in der Suppe

Das Magazin MIT Technology Review hat gestern seine jährliche Liste der zehn „Breakthrough Technologies“ (in etwa „bahnbrechende Technologien“) veröffentlicht – neue Technologien, die bisher kaum lösbare Probleme in den Griff bekommen und das Leben auf der Erde besser machen sollen.

Jede der ausgewählten Technologien bietet tatsächlich großes Potenzial, doch wie bei jeder neuen technischen Entwicklung gibt es auch Schattenseiten. Ich sehe es als meine Aufgabe an, in diesem Blog auf solche Risiken hinzuweisen, auch wenn ich dadurch womöglich als „Unkenrufer“ oder gar „Neoluddit“ dastehe.

Hier also sind die Haare, die ich in den zehn Suppentöpfen gefunden habe:

1. Unhackable Internet (unhackbares Internet)
Gemeint ist damit eine quantenverschlüsselte Kommunikation zwischen Netzknoten. Das Problem ist hier der irreführende Begriff „unhackbar“, der eine Sicherheit suggeriert, die tatsächlich nicht vorhanden ist. Zwar kann man eine quantenverschlüsselte Kommunikation tatsächlich nicht abhören, ohne dass dies bemerkt wird. Doch „Hacken“ setzt ohnehin meist nicht an der Datenübertragung an, sondern beim Sender oder Empfänger. Da die Signale, die über Quantenverbindungen gesendet werden, von ganz normalen Computern entschlüsselt und weiterverarbeitet werden müssen und schließlich von Menschen genutzt werden, gibt es weiterhin etliche Schwachstellen, die Hacker nutzen können, um an vertrauliche Botschaften zu kommen. Die Gefahr ist, dass „Quantenkryptographie“ letztlich nur Geheimdiensten und Militärs nützt und ein „unhackbares Internet“ reine Augenwischerei ist.

2. Hyper-personalized Medizine (extrem individualisierte Medikamente)
Die Vision, jedem Menschen eine individuelle Pille verabreichen zu können, die perfekt auf seine spezifischen Bedürfnisse und seine einzigartigen Körpermerkmale abgestimmt ist, hat einen großen Reiz. Womöglich lassen sich so tatsächlich seltene Erbkrankheiten heilen, für die es sich nicht lohnt, massentaugliche Medikamente zu entwickeln. Doch nicht ohne Grund werden neue Medikamente jahrelang getestet, bevor sie auf den Markt kommen. Ein solcher Test wäre bei einem Individualmedikament undurchführbar, da es nur eine einzige mögliche Testperson gibt. Man muss sich also darauf verlassen, dass der Algorithmus, mit dem das Medikament entworfen wurde, alle denkbaren Risiken und Nebenwirkungen berücksichtigt hat. Ich bezweifle, dass das in absehbarer Zukunft möglich ist – dafür ist der menschliche Körper einfach zu komplex. Nichtsdestotrotz bietet die individualisierte Medizin vor allem bei schweren Fällen, die anders nicht heilbar sind und bei denen es sinnvoll ist, größere Risiken einzugehen, große Chancen.

3. Digital Money (digitales Geld)
Der Artikel weist schon auf den Gegenwind hin, der Facebook ins Gesicht blies, als die Firma versuchte, eine eigene digitale Währung mit dem euphemistischen Namen „Libra“ einzuführen. Ich kann mir kaum einen schlimmeren Alptraum vorstellen als den, dass unsere Geldpolitik nicht mehr von unabhängigen Zentralbanken gemacht wird, sondern von börsennotierten Firmen. (Okay, ich kann mir schlimmere Alpträume vorstellen, aber erleben möchte ich das trotzdem nicht.) Geld muss in staatlicher Hoheit bleiben, sonst wird das Ungleichheitsproblem noch viel schlimmer als ohnehin schon.

4. Anti-Aging Drugs (Medikamente gegen das Altern)
Es gehört für mich zu den tragischen Verirrungen unserer Zeit, dass Altwerden als etwas Schlimmes angesehen wird, das mit allen Mitteln bekämpft werden muss. Botox-Spritzen und „Schönheitsoperationen“ haben für mich den gruseligen Effekt, dass sie die Menschen humanoiden Robotern mit ihrer maskenhaften Mimik immer ähnlicher werden lassen. Natürlich ist es gut, wenn das Leiden älterer Menschen mit neuen Medikamenten verringert werden kann. Aber Lebensverlängerung „um jeden Preis“ ist meines Erachtens kein erstrebenswertes Ziel, und „Jungbleiben bis zum Tod“ auch nicht. Wir müssen lernen, das Alter und den Tod als etwas Natürliches zu akzeptieren, das zu einem erfüllten Leben dazugehört, statt beides zu verdrängen, davor wegzulaufen und so das Leben bis zu seinem (letztlich trotz aller Technik doch unausweichlichen) Ende weniger lebenswert zu machen. Das ist zugegebenermaßen kein technisches Risiko, sondern eine philosophische Frage und meine sehr persönliche Sicht auf das Thema, die ich in Romanen wie „Das Kala-Experiment“ und „Boy in a Dead End“ thematisiert habe.

5. AI-discovered Molecules (durch KI entdeckte Moleküle)
Dies ist eine große Chance für die Medizin, aber auch ein zweischneidiges Schwert, wie ich bereits geschrieben habe.

6. Satellite Mega-Constellations (Mega-Konstellationen von Satelliten)
Die Idee ist es, statt weniger großer viele kleine Satelliten für die Kommunikation zu nutzen. Das hat viele Vorteile, aber wir haben bereits jetzt ein gewaltiges Weltraumschrott-Problem, und das wird durch solche Maßnahmen vermutlich nicht besser.

7. Quantum Supremacy (Quanten-Überlegenheit)
Quantencomputer haben das Potenzial, die Rechengeschwindigkeit heutiger Hochleistungscomputer um ein Vieltausendfaches zu übertreffen. Google hat bereits gezeigt, dass sie bei bestimmten Aufgaben schon jetzt effizienter rechnen können. In Zukunft werden solche Maschinen vor allem bei KI-Anwendungen enorme Fortschritte ermöglichen. Doch das bedeutet, dass die drei Gundprobleme der KI dadurch noch verstärkt werden. Insbesondere das Ungleichheitsproblem wird verstärkt, denn Quantencomputer sind nur unter sehr speziellen Bedingungen arbeitsfähig, die nicht leicht herzustellen sind, und werden nicht so schnell auf jedem Schreibtisch zu finden sein. Das bedeutet: Extreme Rechenleistung und die Fähigkeit, praktisch jeden Code zu knacken, werden demnächst nur einigen wenigen Unternehmen und Behörden zur Verfügung stehen, während sich der Rest der Welt mit den viel langsameren kommerziellen Computern begnügen muss. Der Begriff „Quanten-Überlegenheit“ bekommt so eine neue Bedeutung.

8. Tiny AI (winzige künstliche Intelligenz)
KI benötigt zurzeit oft noch große Rechenpower. Momentan funktionieren zum Beispiel sprachgesteuerte Assistenten wie Siri und Alexa noch so, dass das Smartphone bzw. der Smart Speaker die Frage zu einem Server schickt und von dort eine Antwort bekommt. Demnächst könnten optimierte Algorithmen auch direkt auf dem Smartphone laufen – oder in Alltagsgegenständen, vom selbstlernenden Kühlschrank bis zur „denkenden“ Armbanduhr. Damit werden die bereits thematisierten Grundprobleme der KI auf noch mehr Anwendungsbereiche multipliziert. Ein Effekt könnte es sein, dass die Geräte, die wir täglich benutzen, uns immer besser verstehen, wir sie dagegen immer weniger. Dies würde der Manipulation durch Unternehmen, Marketingfirmen, Meinungsmacher oder Bösewichte Tür und Tor öffnen. So empfiehlt auch der Artikel im MIT Technology Review, Forscher, Ingenieure und Politik müssten zusammenarbeiten, um technische und rechtliche Lösungen für diese Gefahren zu entwickeln.

9. Differential Privacy (Differenzieller Datenschutz)
Daten werden in großen Datenpools oft anonymisiert, doch es ist möglich, diese Anonymisierung wieder aufzuheben, wenn man mehrere Datenbanken miteinander kombiniert. Dies stellt ein großes Problem für den Datenschutz dar. Ein Ansatz, dies zu verhindern, ist es, die einzelnen Datensätze gezielt zu „verunreinigen“, ohne die Gesamtaussagekraft der Daten zu schmälern. So könnten z.B. das Alter oder Geschlecht der Personen in einer Datenbank willkürlich vertauscht werden, ohne dass die Gesamtverteilung verändert wird. Allerdings leidet darunter die Nutzbarkeit der Daten, bestimmte Auswertungen sind dann nicht mehr möglich bzw. liefern falsche Ergebnisse. Die Frage ist hier weniger, ob dieses Verfahren sinnvoll ist, sondern vielmehr, ob es tatsächlich breit angewendet wird. Wer verunreinigt schon gerne absichtlich den Datenschatz, den er zuvor mühsam gesammelt hat?

10. Climate Change Attribution (Klimawandel-Zuordnung)
Neue Simulationsverfahren ermöglichen es, präzise zu modellieren, welche Auswirkungen der Klimawandel konkret hat. Das ist zweifellos ein großer Fortschritt. Die Gefahr sehe ich hier nicht in dem Verfahren an sich, sondern darin, wie mit den Ergebnissen umgegangen wird. Einerseits könnte eine immer feinere „Granularisierung“ der Auswirkungen des Klimawandels zu einer Marginalisierung des Gesamtphänomens führen: „Der Klimawandel führt bloß dazu, dass Stürme zweieinhalb mal so wahrscheinlich und 28% stärker sind? Das ist doch nicht so schlimm.“ Andererseits könnte die Illusion der Beherrschbarkeit entstehen: „Wenn wir das alles so genau berechnen können, dann können wir das Problem auch mit Gegenmaßnahmen in den Griff bekommen.“ Das spricht natürlich nicht dagegen, solche Analysen zu machen, es sollte nur sehr genau überlegt werden, wie die Ergebnisse kommuniziert und genutzt werden.

Diese zehn Technologien sind bei Weitem nicht die einzigen Veränderungen, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen. Sie bieten große Chancen, aber sie stellen uns auch vor neue Herausforderungen. Und die Menge und Dimension dieser Herausforderungen nimmt mit dem immer rasanteren technischen Fortschritt weiter zu.

 


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