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Evolution und KI Teil 1: Was hat Evolution mit KI zu tun?

In dieser Miniserie möchte ich die Frage untersuchen, inwieweit die Entwicklung künstlicher Intelligenz ein Evolutionsprozess ist, welche Vorhersagen die Evolutionstheorie zur zukünftigen Entwicklung der KI macht und wie wir damit umgehen sollten.

In den Medien wird immer wieder von der „Evolution“ der Technik gesprochen.  Tatsächlich gibt es auf den ersten Blick viele Ähnlichkeiten zwischen der biologischen und technischen Entwicklung – so kann man etwa einen Stammbaum des Automobils zeichnen, der an den Stammbaum biologischer Spezies erinnert:

Der Stammbaum des Automobils (Grafik: Karl Olsberg)

 

Aber ist biologische und technische Evolution wirklich dasselbe? Um diese Frage zu beantworten, muss man zunächst verstehen, was Evolution eigentlich ist und wie sie funktioniert. Die meisten Menschen betrachten Evolution als ein biologisches Phänomen, bei dem sich Tier- und Pflanzenarten allmählich an veränderte Umweltbedingungen anpassen. Dies geschieht im Lauf von Jahrmillionen, also sehr viel langsamer als die technische Entwicklung, die zudem nicht zufällig, sondern gezielt erfolgt. Dementsprechend ist der Begriff „Evolution“ im Zusammenhang mit Technik meist nicht wörtlich gemeint, sondern als Analogie zur Biologie.

Tatsächlich ist Evolution jedoch kein biologisches, sondern ein mathematisches Phänomen. Es basiert auf den drei Prinzipien Reproduktion, Mutation und Selektion. Evolution findet zwangsläufig immer statt, wenn etwas vervielfältigt wird (Reproduktion), die Kopien dabei nicht exakt mit dem Original identisch sind (Mutation) und es einen Prozess gibt, der einige der Kopien abhängig von ihren Eigenschaften auswählt, um sie weiter zu kopieren (Selektion). Es ist eine mathematische Notwendigkeit, dass nach mehreren Iterationen dieses Kreislaufs die durchschnittliche Häufigkeit von Eigenschaften, die für die Selektion förderlich sind, zunimmt. Für die Wirkung des Evolutionsprinzips ist es unerheblich, auf welche Weise Reproduktion, Mutation und Selektion stattfinden. Die einzige Bedingung ist, dass die Selektion von den Eigenschaften der reproduzierten Objekte beeinflusst sein muss und nicht völlig zufällig sein darf.

 

Daraus folgt, dass das Evolutionsprinzip nicht nur auf die Entwicklung des Lebens, sondern auch auf alle nichtbiologischen Prozesse anwendbar ist, bei denen wiederholt Reproduktion, Mutation und Selektion stattfinden. Das muss schon deshalb so sein, weil das Leben auf der Erde gar nicht hätte entstehen können, wenn Evolution nicht bereits auf der Ebene chemischer Reaktionen  gewirkt hätte, lange bevor es die ersten Lebewesen gab. Folglich unterliegt auch die technische Entwicklung dem Evolutionsprinzip, denn zweifelsohne werden technische Konzepte immer wieder reproduziert, dabei verändert und schließlich durch die Entscheidungen eines Unternehmens und/oder den Markt „selektiert“. Die technische Entwicklung ähnelt der biologischen nicht nur, sondern dahinter steckt exakt dasselbe mathematische Prinzip.

Richard Dawkins hat dies in seinem Buch „Das egoistische Gen“ bereits 1976 deutlich gemacht. Er schuf den Begriff „Mem“ für geistige und technische Konzepte, die der „memetischen“ Evolution unterliegen, als Analogie zu den Genen, die das Objekt der biologischen Evolution sind (und nicht etwa die Spezies, wie viele immer noch glauben). Tatsächlich liefert die heutige Verwendung des Begriffs „Mem“ viele schöne Beispiele für die Anwendbarkeit des Evolutionsprinzips auf nichtbiologische Phänomene: Lustige Kätzchenfotos werden in sozialen Medien verbreitet und so reproduziert. Dabei findet Mutation statt (jemand sieht ein lustiges Foto, fotografiert daraufhin seine eigene Katze, schreibt einen mehr oder weniger originellen Text dazu und stellt das Bild ins Netz). Schließlich werden besonders lustige Fotos von den Nutzern ausgewählt, um geliked und weiterverbreitet zu werden. „Lolcat“-Bilder sind also genauso ein Produkt der Evolution wie die Katzen auf den Fotos.

Lolcat (Quelle: Dougwood/Joyce-Rihannon, Wikimedia Commons)

 

„Aber im Unterschied zur biologischen Evolution ist doch die technische Entwicklung nicht zufällig“, lautet ein häufig angeführtes Gegenargument. „Ingenieure und Softwareentwickler probieren nicht bloß blind herum, sie arbeiten systematisch auf ein Ziel hin.“ Das stimmt natürlich, spricht aber nicht gegen die Anwendbarkeit des Evolutionsprinzips auf die technische Entwicklung. Eine „gesteuerte“ Mutation mit dem Ziel, die Selektionswahrscheinlichkeit zu erhöhen, führt zu größeren Überlebenschancen der Nachkommen und somit zu einer Beschleunigung der Evolution. Die Natur hat deshalb viele Mechanismen entwickelt, die den Einfluss des Zufalls bei der Mutation reduzieren. Die komplizierten Rituale, mit denen manche Tierarten geeignete Partner für die Fortpflanzung suchen, sind dafür ein Beispiel. Umgekehrt spielt der Zufall auch in der technischen Entwicklung eine große Rolle, wenn zum Beispiel ein Ingenieur eine kreative Idee hat oder von etwas inspiriert wird, das er irgendwo gelesen hat. Der Unterschied ist also nicht so groß, wie er erscheint.

Als Teil der technischen Entwicklung unterliegen folglich auch Systeme der künstlichen Intelligenz, oder besser Systeme zur Automatisierung von Entscheidungen, der Evolution. Dabei werden nicht nur die Algorithmen und technischen Konzepte, auf deren Basis KIs funktionieren, immer wieder reproduziert, weiterentwickelt (mutiert) und getestet (selektiert). Evolution ist auch das Grundprinzip selbstlernender neuronaler Netzwerke: Je nach Algorithmus werden die Verbindungen zwischen einzelnen Neuronen mehr oder weniger zufällig variiert (Mutation) und es wird geprüft, ob dies zu einer Verbesserung des Ergebnisses führt oder nicht (Selektion). Anschließend wird der Prozess erneut durchlaufen (Reproduktion). Das Programm AlphaGo Zero hat sich selbst das Go-Spielen beigebracht, indem es millionenfach gegen sich selbst spielte. Dabei machte es zu Anfang zufällige Züge, „lernte“ jedoch durch Mutation und Selektion sehr schnell, welche Züge in bestimmten Situationen vorteilhaft sind und welche nicht. Nach drei Tagen Evolution seines neuronalen Netzwerks spielte AlphaGo Zero bereits besser als sein Vorgänger, der 2016 den Weltmeister Lee Sedol geschlagen hatte.

Ein weiteres Beispiel für die Anwendung des Evolutionsprinzips bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz sind so genannte „Generative Adversarial Networks“ (GANs). Dabei treten zwei selbstlernende neuronale Netze im Wettstreit gegeneinander an. Beispielsweise versucht eines der beiden, möglichst realistische Bilder menschlicher Gesichter zu erzeugen, während das andere versucht, echte Fotos von den künstlich erzeugten Bildern seines „Widersachers“ zu unterscheiden. Im Ergebnis entstehen so erstaunlich realistische Bilder, die selbst Menschen kaum noch als künstlich erkennen können, und gleichzeitig sehr gute Bilderkennungsprogramme. GANs ermöglichen es, KIs ohne menschliche Hilfe zu trainieren.

Künstlich erzeugtes Bild (Quelle: Owlsmcgee/Wikimedia Commons)

 

Das obige "Foto" ist ein Beispiel eines mit „StyleGAN“  künstlich erzeugten Bildes, das einen nicht existierenden Menschen zeigt. Man muss schon sehr genau hinsehen, um die geringfügigen Fehler im Bild (z.B. mehr Bartwuchs auf einer Gesichtshälfte als auf der anderen, die linke Augenbraue verläuft seltsam, das rechte Ohr ist merkwürdig geformt) zu erkennen.

Das Evolutionsprinzip ist also für die Entwicklung künstlicher Intelligenz nicht nur relevant, sondern eine treibende Kraft dieser Technologie. In den nächsten Beiträgen werde ich mich mit der Frage beschäftigen, welche Vorhersagen sich aus dieser Tatsache für die weitere Entwicklung der KI ableiten lassen und wie wir damit umgehen sollten.


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