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Evolution und KI Teil 2: Die Vielfalt der KI

Wenn Evolution die treibende Kraft hinter der Entwicklung künstlicher Intelligenz ist, was sagt uns das? Welche Vorhersagen macht die Evolutionstheorie generell und inwieweit sind diese auf KI anwendbar? Ich sehe drei wesentliche Konsequenzen des Evolutionsprinzips:

  1. Vielfalt
  2. Konflikte
  3. Beschleunigung

In diesem Beitrag werde ich mich dem ersten Begriff auf der Liste widmen. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass hier zwei Begriffe fehlen, die typischerweise mit Evolution verbunden werden: „Anpassung“ und „Fortschritt“. Ohne an dieser Stelle eine umfassende Darstellung der Evolutionstheorie liefern zu können, möchte ich zunächst kurz ausführen, warum diese beiden Begriffe nicht in meiner Konsequenzenliste stehen und stattdessen „Vielfalt“ die Liste anführt.

Beginnen wir mit dem Begriff „Anpassung“. Als der Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck gut vierzig Jahre vor Darwin seine Evolutionstheorie entwarf, ging er davon aus, dass sich Tiere an Umweltveränderungen anpassen, indem sie ihre Körper minimal verändern und diese Veränderungen an die Nachkommen weitergeben. Die langen Hälse der Giraffen führte Lamarck darauf zurück, dass die Tiere aufgrund des üppigeren Nahrungsangebots in größerer Höhe ihre Hälse reckten, sie dabei leicht verlängerten und dies an die nächste Generation weitervererbten. Dies wäre tatsächlich „Evolution durch Anpassung“.

Heute wissen wir, dass Lamarck sich irrte. Statt eine erworbene Halsverlängerung von ihren Eltern zu erben, variieren die Halslängen der Giraffenbabys zufällig – manche sind kürzer als die der Eltern, andere länger. Die Tiere mit längeren Hälsen hatten in der Vergangenheit eine etwas höhere Überlebenswahrscheinlichkeit und deshalb die Chance, ihre zufällig etwas größere Halslänge an die Nachkommen weiterzugeben. Auch bei diesen variierte die Halslänge wieder zufällig, jedoch um einen etwas höheren Mittelwert als in der Generation zuvor. Evolution führt so durch zufällige Mutation und den Selektionsmechanismus des Kampfs ums Überleben zu einer graduellen Veränderung der durchschnittlichen Eigenschaften einer Spezies, die wie eine Anpassung an veränderte Umweltbedingungen aussieht. Doch tatsächlich ist der Kern der Evolution nicht „Anpassung“,  sondern „Vielfalt“: In jeder neuen Generation von Giraffen gibt es eine größere Schwankungsbreite der Länge der Giraffenhälse (und auch aller anderen Eigenschaften) als bei den Eltern.

Diese Vielfalt führt dazu, dass  die Evolution die Lösung für fast jedes denkbare Problem bereits hat, bevor es auftritt. Verändert sich die Umwelt graduell, überleben die Nachkommen, die ihren Eltern relativ ähnlich sind. Verändert sie sich radikal, schlägt die Stunde der Außenseiter. Sollte es sich in Zukunft für Giraffen als vorteilhaft erweisen, kürzere Hälse zu haben, könnte sich der evolutionäre Trend wieder umkehren. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass Giraffen einfach aussterben und Spezies mit kürzeren Hälsen ihren Platz einnehmen. Der Evolution ist das Schicksal der Giraffen herzlich egal, solange es irgendetwas gibt, das sich reproduziert, dabei mutiert und so neue Vielfalt schafft, aus der wiederum die erfolgversprechendsten Eigenschaften selektiert werden können.

Schaut man sich die Entwicklung des Lebens auf der Erde an, dann ist der Trend zu mehr Vielfalt unverkennbar. Trotz aller Bemühungen des Menschen, die Artenvielfalt zu zerstören, leben heute viel mehr unterschiedliche Lebensformen auf unserem Planeten als etwa zur Zeit der Dinosaurier. Und auch die durch den Menschen verursachte Umweltkatastrophe wird der durch Evolution erzeugten Vielfalt des Lebens bestenfalls einen (in erdgeschichtlichem Maßstab) kurzen Dämpfer verpassen, so wie schon viele andere Katastrophen zuvor. Spinnen und Insekten würden sogar einen globalen Nuklearkrieg relativ unbeschadet überstehen, ganz zu schweigen von den winzigen Bärtierchen, die radioaktive Strahlung überleben können, deren Intensität Glas zum Schmelzen bringt. Sogar Flüge in den luftleeren, eiskalten und von harter Strahlung verseuchten Weltraum können manche Lebewesen unbeschadet überstehen. Vielfalt ist die Antwort der Evolution auf jede denkbare Herausforderung.

 

Wer die Vielfalt das Lebens auf der Erde anschaulich erfahren möchte, dem empfehle ich den wunderbaren interaktiven Lebensbaum, in dem man Millionen Lebensformen erkunden kann (versuchen Sie mal, den Ast mit den Menschen zu finden!).

Interaktiver "Lebensbaum" (Quelle: www.onezoom.org/life.html/@biota=93302)

 

Ein weiterer häufiger Irrtum ist es, Evolution führe zu einer graduellen „Verbesserung“  der Spezies und damit zu „Fortschritt“. So halten viele den Menschen für die „höchstentwickelte“ Lebensform oder gar die „Krone der Schöpfung“. Tatsächlich ist unsere überragende Intelligenz jedoch bloß ein Extremwert auf der Skala der Intelligenz, deren Streuung aufgrund der wachsenden Vielfalt im Lauf der Evolution zwangsläufig immer breiter wurde.  So ist beispielsweise auch das schwerste Lebewesen, das jemals gelebt hat, nicht der gewaltige Titanosaurus, sondern der mehr als doppelt so schwere Blauwal.

Aus Sicht der Evolution ist ein intelligentes Lebewesen nicht „besser“ oder „schlechter“ als ein dummes, es besetzt nur eine andere Nische. Trotz der Zerstörung der Wälder bilden Bäume immer noch die mit Abstand größte Biomasse auf der Erde. Würde man alle Bakterien auf eine Waage legen, wäre ihr Gesamtgewicht mehr als tausendmal so hoch wie das der ach so überlegenen Menschheit. Und das Coronavirus belehrt uns gerade, dass selbst ein unbelebtes Objekt wie ein Virus all unsere cleveren Strategien, es zu bekämpfen, überwinden kann. Evolutionärer „Fortschritt“ bedeutet also in Wirklichkeit ebenfalls „mehr Vielfalt“.

Wenn Vielfalt das Grundprinzip der Evolution ist und die Entwicklung der KI von diesem Prinzip angetrieben wird, dann folgt daraus, dass auch die Vielfalt der Technologien und Anwendungen künstlicher Intelligenz immer größer wird. Dies gilt auch für die meisten anderen Technologien, wie man am von mir skizzierten Stammbaum des Automobils sehen kann. Ebenso folgt daraus, dass KI-Anwendungen nicht per se immer intelligenter werden, jedoch der Extremwert – die Leistungsfähigkeit der intelligentesten KI – im Zeitverlauf nahezu zwangsläufig zunimmt.

Im Jahr 2050 wird es folglich nicht nur sehr viel mehr KIs geben als heute, sie werden auch weitaus vielfältiger sein. Natürlich werden die leistungsfähigsten KIs wesentlich mehr können als die besten heutigen Anwendungen, aber es wird vermutlich viel mehr relativ „schwache“ KIs (z.B. Gesichtserkennung, Spracherkennung, Empfehlungsalgorithmen, Steuerungssysteme etc.) geben als „starke“ KIs mit allgemeiner, der menschlichen ähnlicher Intelligenz. Für die allermeisten automatischen Entscheidungen wird eine solche „starke“ KI gar nicht gebraucht: selbstfahrende Autos müssen keine Romane schreiben können.

In vielen Anwendungsgebieten wird es statt einer einzigen „starken“ KI Netzwerke von vielen „schwachen“, aber hoch spezialisierten KIs geben, die einander zuarbeiten und so komplexe Probleme lösen – und zwar viel besser, als es eine einzige starke KI könnte. Dies ist vergleichbar mit den symbiotischen Ökosystemen der Natur: Ein Wald kann als Ganzes sehr viel besser überleben und ist robuster gegenüber Veränderungen als eine einzelne Baum- oder Tierart für sich allein. Nur sehr wenige, aber dafür umso bedeutendere Nischen im „Ökosystem“ der Anwendungen künstlicher Intelligenz werden tatsächlich von starken KIs besetzt werden, so wie heute der Mensch zwar die Erde massiv verändert, aber nur einen winzigen Bruchteil (etwa 0,01%) ihrer Biomasse ausmacht.

Dies ist einerseits aus Sicht einer Risikobewertung eine gute Nachricht: Vielfalt erzeugt Resilienz.  Die Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelnes superintelligentes System die Herrschaft über die Erde übernimmt, wie dies in manchen Science Fiction-Romanen dargestellt wird, sinkt dadurch. Wir Menschen mögen uns einbilden, die Erde zu beherrschen, doch tatsächlich ist uns die Natur als Ganzes immer noch haushoch überlegen. Wir können einzelne Spezies ausrotten, doch das Leben an sich werden wir nicht zerstören, solange wir es nicht schaffen, den ganzen Planeten buchstäblich in Stücke zu sprengen.

Andererseits zeigt das Beispiel des Menschen, dass 0,01% der Biomasse ausreichen, um die übrigen 99,99% gravierend zu verändern. Wir Menschen können zwar das Leben auf der Erde nicht auslöschen, unsere eigene Spezies aber schon  - wir müssen uns sogar ziemlich anstrengen, um das zu verhindern. Ebenso können sowohl schwache als auch starke KIs immer noch eine Menge Unheil anrichten, selbst wenn sie nicht zu Alleinherrschern werden.

Eine weitere schlechte Nachricht ist, dass es aufgrund der enormen Vielfalt an Anwendungen und Technologien praktisch unmöglich sein wird, die Entwicklung der KI unter Kontrolle zu behalten. Wir können beispielsweise versuchen, verbindliche Prinzipien für ethische KI zu entwickeln, doch das Prinzip der Vielfalt bedeutet, dass sich einige nicht daran halten werden. Vielfalt führt in der Natur zu zahlreichen Konflikten, und diese Konflikte begegnen uns auch in der technischen Entwicklung. Diesem Thema widme ich mich im nächsten Beitrag.


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