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Evolution und KI Teil 4: Die Beschleunigung der KI

In einem evolutionären Rüstungswettlauf gewinnt derjenige, der sich durch Mutation, Selektion und Reproduktion einen Vorsprung verschaffen kann. Daraus folgt, dass die Veränderungsfähigkeit und -geschwindigkeit einer Spezies ein wesentliches Selektionskriterium ist. Treiber der Veränderungsgeschwindigkeit des Genoms von Generation zu Generation ist die Mutationsrate – der Anteil der Gene, die sich von denen der Eltern unterscheiden. Dabei gibt es jedoch zwei gegenläufige Effekte: Auf der einen Seite schafft mehr Mutation eine größere Chance, Nachkommen mit überlegenen Eigenschaften zu erzeugen. Auf der anderen Seite vergrößert dies jedoch auch die Wahrscheinlichkeit, dass zufällige Veränderungen nachteilig sind und die Nachkommen im Überlebenskampf unterliegen oder gar nicht erst lebensfähig sind.

Im Laufe der Evolution hat die Natur deshalb ausgefeilte Mechanismen entwickelt, die genau die richtige Mutationsrate hervorbringen und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Mutationen zu positiven Veränderungen führen. Ein Beispiel für einen solchen Mechanismus ist die sexuelle Reproduktion. Solange sich Lebewesen ungeschlechtlich fortpflanzen, wie dies zum Beispiel Bakterien tun, können sie nur ihre eigenen Gene variieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass dabei signifikante Verbesserungen entstehen, ist gering, die Gefahr von Verschlechterungen hoch.  Warum das so ist, kann man am Beispiel eines geschriebenen Satzes erläutern: Wenn ich darin ein Wort durch ein zufälliges anderes austausche, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Wort nicht passt und ein Fehler entsteht. Die Wahrscheinlichkeit, dass das neue Wort den Satz besser macht, ist sehr gering.

Sexuelle Reproduktion ermöglicht es dagegen, die bereits erwiesenermaßen funktionierenden, aber unterschiedlichen Genome zweier Lebewesen neu zu kombinieren. Das ist etwa so, als würde man einen neuen Satz erzeugen, indem man Wörter aus zwei anderen, ähnlichen Sätzen zusammenfügt. Natürlich besteht auch dabei die Chance, dass der Satz unverständlich ist. Wenn man es geschickt anstellt, kann man so aber auch erstaunlich überzeugende Texte generieren, wie die KI GPT3 beweist. Sexuelle Reproduktion erlaubt eine beschleunigte Anpassung einer Spezies an veränderte Umweltbedingungen, weil die Mutation nicht mehr rein zufällig erfolgt: Die Vielfalt der Nachkommen ist ebenso groß, aber ihre Überlebensfähigkeit ist im Durchschnitt deutlich größer als bei ungeschlechtlicher Fortpflanzung.

Ein weiterer Trick der Natur, schneller auf Veränderungen zu reagieren und im Rüstungswettlauf Vorteile zu erlangen, ist erlerntes Verhalten. Die meisten Verhaltensweisen von Tieren sind angeboren – eine Spinne „lernt“ nicht, ihr Netz zu bauen, sie kann es von Geburt an. Entsprechend lange dauert es, dieses Verhalten durch Mutation, Selektion und Reproduktion von Generation zu Generation graduell zu verändern. Tiere mit einem hochentwickelten Gehirn können dagegen neue Verhaltensweisen durch Beobachtung oder Versuch und Irrtum erwerben. So lernen beispielsweise junge Füchse von ihrer Mutter, wie man Beute aufspürt und zur Strecke bringt. Dieses Verhalten ist sehr viel schneller veränderbar. Wenn ein Fuchs eine neue Jagdmethode entwickelt, kann er diese direkt an die Nachkommen weitergeben, indem er sie ihnen vormacht. Im Unterschied zur genetischen Evolution kann bei dieser „memetischen“ Evolution also eine während des Lebens erworbene Veränderung direkt „vererbt“ werden. Komplexe Gehirne sind eine Methode der Evolution, sich selbst zu beschleunigen.

Der Trend zur Beschleunigung der Evolution lässt sich deutlich erkennen, wenn man die Entwicklung des Lebens auf einer Zeitskala betrachtet. Zwei Drittel der Erdgeschichte seit Entstehung des Lebens vor etwa 3,8 Milliarden Jahren gab es nur primitive, einzellige Lebewesen, bevor sich vor etwa 1,2 Milliarden Jahren die ersten mehrzelligen Lebensformen bildeten. Erst vor etwa 550 Millionen Jahren, also nach 85% der Zeit, entstand während der „kambrischen Explosion“ in den Ozeanen eine große Vielfalt von unterschiedlichen Tieren und Pflanzen. Wann genau die ersten komplexen Gehirne entstanden, die es ermöglichten, Verhaltensveränderungen zu erlernen und weiterzugeben, ist nicht bekannt, aber es dürfte irgendwann geschehen sein, nachdem die ersten Lebewesen vor 400 Millionen Jahren das Land eroberten. Manche Dinosaurierarten, wie beispielsweise Velociraptoren, die vor etwa 70 Millionen Jahren lebten, jagten in Rudeln, die bereits eine Koordination der Tiere untereinander und damit Kommunikation und Lernfähigkeit erforderten.

Auch die memetische Evolution verlief zunächst sehr langsam – die ersten lernfähigen Tiere konnten sicher nur sehr simple Verhaltensweisen weitergeben. Unsere frühen Vorfahren vor etwa 4 Millionen beherrschten dagegen vermutlich bereits eine komplexe Sprache, mit der sie zum Beispiel das Wissen über die Herstellung von Werkzeugen vermitteln konnten. Doch erst die Erfindung der Schrift vor etwa 6.000 Jahren brachte die memetische Evolution so richtig in Schwung, denn nun konnten Ideen und Konzepte erstmals auch außerhalb der Gehirne von Lebewesen „überleben“ und sich weiterentwickeln. Wie rasant sich die Welt seitdem verändert hat, ist offensichtlich.

Die automatische Verarbeitung von Informationen durch Computer dürfte die vorerst letzte Stufe der Evolutionsbeschleunigung sein. Dass sie den technischen Fortschritt und damit auch sich selbst immer schneller macht, lässt sich am exponentiellen Wachstum der Rechenleistung verdeutlichen. 2016 habe ich das in einem Vortrag illustriert, indem ich darauf hinwies, dass der Grafikprozessor des damals aktuellen iPhone 6 in etwa die Rechenleistung des schnellsten Computers der Welt zwanzig Jahre zuvor besaß. Seitdem haben sich sowohl die Prozessorleistung des iPhones als auch des schnellsten Computers der Welt mehr als vervierfacht. Wenn der Trend anhält und sich die Rechenleistung weiterhin alle 1-2 Jahre verdoppelt, dürfte der schnellste Computer des Jahres 2050 mindestens 30.000 mal so schnell sein wie heute. Das ist noch konservativ gerechnet: Der heute schnellste Computer der Welt ist ungefähr 18 Millionen mal so schnell wie der Rekordhalter des Jahres 1990.

Die Evolution hat nicht nur immer wieder neue Methoden zur Beschleunigung ihrer selbst entwickelt, die Abstände zwischen diesen Beschleunigungsstufen wurden auch immer kürzer. Zwischen der Erfindung der Sprache und der Schrift vergingen vermutlich mehrere Millionen Jahre, zwischen Schrift und Buchdruck ein paar tausend, zwischen Buchdruck und Computer nur noch einige Jahrhunderte. Die nächste Beschleunigungsstufe ist bereits absehbar: Computer, die sich vollständig selbst weiterentwickeln. Selbstlernende neuronale Netze und Generative Adversarial Networks sind Vorstufen davon, benötigen aber immer noch menschlichen Input. Doch irgendwann – vermutlich innerhalb der nächsten paar Jahrzehnte – werden Computer vollständig ohne unsere Hilfe Programme schreiben, neues Wissen erwerben und sich selbst weiterentwickeln. Diesen Moment nennt der Autor und Google-Entwicklungschef Ray Kurzweil die „technologische Singularität“: Wir können dann im Prinzip nur noch tatenlos danebenstehen und zusehen, wie die Maschinen immer schlauer werden.

Es ist offensichtlich, dass es für uns Menschen äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich sein wird, diese Entwicklung vollständig zu kontrollieren. Selbst, wenn es uns gelingen sollte, das „Kontrollproblem“ der KI zu lösen, könnten wir bestenfalls einige starke KIs bauen, die sich tatsächlich unseren Wünschen und Bedürfnissen unterordnen. Der unablässige Kreislauf von Reproduktion, Mutation und Selektion würde jedoch dazu führen, dass sich unabhängig davon andere – schwache und auch starke – KIs entwickeln, die sich nicht an unsere moralischen Prinzipien und Vorgaben halten. Die Entstehung von parasitären, ausbeuterischen und gefährlichen künstlichen Intelligenzen ist wohl unvermeidbar.

Was wir tun können und sollten, um trotzdem unsere Zukunft einigermaßen gestalten zu können, darauf werde ich im nächsten Beitrag näher eingehen.


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