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Die Wirklichkeit gewinnt immer

Am vergangenen Mittwochmorgen erlebte ich einen Schock, der sich wie ein Déjà-vu aus November 2016 anfühlte. Damals hatte ich am Flughafen auf dem Weg nach München erfahren, dass entgegen allen Prognosen Donald Trump die US-Wahl für sich entschieden hatte. Diesmal war ich am Dienstagabend nervös, aber voller Zuversicht schlafen gegangen. Immerhin hatte Joe Biden in den Umfragen deutlich klarer vorn gelegen als seinerzeit Hillary Clinton, außerdem hatte er in vielen Bevölkerungsgruppen ein besseres Image. Zudem mussten doch die Marktforscher aus dem Debakel vor vier Jahren gelernt haben, der große Vorsprung Bidens war also viel besser abgesichert. So hoffte ich wie so viele andere auf einen Erdrutschsieg der Demokraten.

Und dann das: Florida und Texas gingen nicht wie erhofft an Biden (was die Wahl vorzeitig entschieden hätte) sondern an Trump und auch in den meisten Swing States lag er weit vorn. Sicher bin ich nicht der Einzige, der die Zitterpartie der letzten Woche nervenaufreibend fand. Ich würde mich kaum trauen, eine solche Aufholjagd in einem Roman herbeizufantasieren, geschweige denn, sie in der Realität erwarten. Sowas kann man sich nicht ausdenken!

Auch wenn die Wahl zum Glück doch noch gut auszugehen scheint (sofern man wie ich der Ansicht ist, dass ein narzisstischer Lügner und Aufschneider nicht der mächtigste Mann der Welt sein sollte), ist doch klar, dass mein Optimismus fehlangebracht war und die meisten Marktforscher auch diesmal wieder kilometerweit daneben lagen. Offensichtlich ist es nicht so einfach, im Vorfeld herauszufinden, was die Leute wirklich denken.

Am schlimmsten finde ich, dass Trump über 70 Millionen Stimmen bekam, mehr als Barack Obama oder jeder andere US-Präsident zuvor mit Ausnahme seines Kontrahenten Joe Biden. Das ist natürlich der hohen Wahlbeteiligung geschuldet, aber es zeigt auch, dass sehr viele Amerikaner immer noch zu Trump stehen und ihn nicht trotz, sondern wegen seiner Lügen und Aufschneiderei gewählt haben. Es ist, als lebten diese Leute in einem ganz anderen Universum als ich – in einer Parallelwelt, in der Donald Trump „so ehrlich ist“, wie eine begeisterte Anhängerin im Fernsehen verkündete, in der finstere Mächte die Wahl manipuliert haben und in der die effektivste Strategie zum Umgang mit der Covid-19-Pandemie Beten und Nichtstun zu sein scheint.

Wie ist das möglich? Offensichtlich leben diese Menschen in einer Blase, in der sie die Wirklichkeit ganz anders erleben als ich – angetrieben durch Wunschdenken und selektive Wahrnehmung, verstärkt durch Fox News, rechtsradikale Websites, evangelikale Prediger und die narzisstischen Algorithmen der sozialen Medien. Das fing schon mit den berühmten „alternativen Fakten“ an, mit denen die Präsidentenberaterin Kellyanne Conway im Januar 2017 die Falschaussage des damaligen Regierungssprechers Sean Spicer zu rechtfertigen versuchte, zu Trumps Vereidigung seien deutlich mehr Besucher gekommen als zu der von Barack Obama. Seitdem hat Trump jeden Tag hunderte Male gelogen, bis einem buchstäblich Hören und Sehen verging. Unterstützt wurde er dabei auch von willfährigen Republikanern, die sämtliche Ideale ihrer Partei über Bord geworfen haben, um sich vom Trump-Populismus eine Scheibe abzuschneiden.

Offensichtlich lebte (und lebe) auch ich in einer solchen Blase. Mein von Wunschdenken geprägter und von unzuverlässigen Meinungsforschern verstärkter Optimismus ließ mich davon ausgehen, dass Joe Biden die Wahl praktisch schon gewonnen hatte, bevor sie wirklich begann. Doch ich wurde auf den harten Boden der Realität zurückgeholt, so wie später auch die Trump-Anhänger. Trump selbst scheint nach wie vor in seiner Blase zu leben und versucht, sich und anderen einzureden, er habe die Wahl gewonnen. Doch es wird immer einsamer um ihn.

Ob es uns gefällt oder nicht, die Wirklichkeit gewinnt am Ende immer. Das ist eine gute und schlechte Nachricht zugleich. Gut, weil es schlimm wäre, wenn die „Alternativen Fakten“ der Trump-Welt dauerhaft Bestand hätten. Schlecht, denn es bedeutet, dass auch alle anderen Illusionen, die wir alle mit uns herumtragen, früher oder später zerstört werden – von der Idee, die Covid-19-Pandemie sei gar nicht so schlimm, über die Vorstellung, wir würden den Klimawandel schon noch in den Griff bekommen, bis zur Selbstberuhigung in Bezug auf die Risiken künstlicher Intelligenz.


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Kommentare: 7
  • #1

    Heinrich (Sonntag, 08 November 2020 23:21)

    Hallo Karl,
    hier geht es ja um die Risiken künstlicher Intelligenz. Das Risiko schätze ich inzwischen wesentlich geringer ein, als das Risiko, das die menschliche Intelligenz birgt.
    Die Wirklichkeit gewinnt am Ende immer. (noch)

    Aber wenn 70 Millionen Amerikaner die Realität nicht verstehen oder mutwillig ignorieren, kann man vermuten, dass die Wirklichkeit es immer schwerer haben wird zu gewinnen.
    Denn neben den 70 Millionen Amerikanern lauern weltweit noch Milliarden Menschen, die leicht zu manipulieren sind, die hilflos sind, keine Macht aber immer viel Hunger haben.
    Davon abgesehen, wenn ich die Demos gegen die Coronamaßnahmen betrachte, rutscht die menschliche Intelligenz bei mir noch ein paar Plätze tiefer in der Bewertungsskala und erhöht das Risiko nachhaltiger Schäden.

    Ich schlage vor, dass 12 KIs diese Welt regieren. Ich weiß nur noch nicht, ob es wie bei der Regel der Geschworenen nur mit einstimmiger Mehrheit ablaufen soll, oder mit einfacher Mehrheit, wenn die KIs sich mal nicht einig sind.

    Gruß Heinrich

    P.S. ich mache mir mal eine Aktennotiz, wenn ich einen Tag habe, an dem ich positiv denke, DANN hier einen Kommentar zu schreiben. ;)

  • #2

    Karl Olsberg (Montag, 09 November 2020 10:22)

    @Heinrich: Dieses Blog trägt ja nicht umsonst den Untertitel "Künstliche Intelligenz und menschliche Dummheit", insofern teile ich Deinen Pessimismus ein Stück weit. Das Risiko künstlicher Intelligenz wird dadurch im Vergleich aber leider nicht kleiner, weil KI menschliche Dummheit noch verstärkt, statt sie einzudämmen - das ist genau das Problem.

    Vielleicht bauen wir eines Tages eine Maschine, die klug genug ist, die Welt so zu beherrschen, dass es uns und der Natur dauerhaft gut geht. Aber höchstwahrscheinlich bauen wir vorher eine Maschine, die einige wenige Leute superreich und supermächtig macht und auf dem Weg dorthin eine Menge Unheil anrichtet. Doch die US-Wahl hat auch gezeigt, dass es nicht zwangsläufig so kommen muss. Wir haben die Wahl - auch hier in Deutschland - wie wir unsere Zukunft gestalten wollen.

  • #3

    Heinrich (Mittwoch, 11 November 2020 20:32)

    @Karl, ich muss noch einmal darauf "rumreiten", was menschliche Dummheit angeht.
    Es ist ja keine Dummheit in dem Sinn, dass Intelligenz fehlt. Die Menschen die "dumm", gleichgültig, machtbesessen, geldgierig oder gar kriminell dieser Welt Schaden zufügen sind ja meistens sehr intelligent. Die wirklich Dummen werden ausgenutzt, manipuliert und werden zu Mitläufern.
    Darum denke ich, dass die Intelligenz von Maschinen andere Motive hat als die Intelligenz der Menschen.
    Darum habe ich weniger Sorge, dass KIs beim Untergang dieser Welt nur zuschauen, wenn sie Macht über alle Resourcen bekommen, als es die Menschen tun. Eine KI, die das Ziel hat, sich selbst zu schützen, wird nicht Klima und Energie vernichten, weil sie ja davon auf abhängig ist. Sie wird Störungen wesentlich früher erkennen als die Menschen, die Einfluss hätten, Störungen zu unterbinden.
    Ich freue mich darauf, wenn diese Welt von KIs "regiert" wird. ;)
    *und noch'n zwinker*

  • #4

    Karl Olsberg (Donnerstag, 12 November 2020)

    @Heinrich: Ich fürchte, ich bin weniger optimistisch, was das Verhalten von KIs angeht. Denn deren Werte bzw. Ziele bestimmen leider diejenigen, die die KI bauen, zu welchem Zweck auch immer. Was dabei schief gehen kann, darüber habe ich schon diverse Beiträge und auch Bücher wie "Mirror" geschrieben.

    Eine "egoistische" KI hätte zwar sicher das Ziel, über ausreichend Energie zu verfügen, aber das Klima wäre ihr herzlich egal, von der Sauberkeit der Luft oder der Meere ganz zu schweigen. Zu hoffen, dass KIs irgendwie von selbst "nett" zu uns sind, ist wohl ähnlich aussichtsreich wie die Hoffnung der Gorillas und Orang Utans, ihre Vettern mit den großen Gehirnen würden schon dafür sorgen, dass sie ausreichend Lebensraum hätten.

    Wenn wir eines Tages superintelligente KIs bauen, müssen wir VORHER sicherstellen, dass sie "nett" zu uns sind und nicht einseitige Ziele verfolgen, deren unbeabsichtige Nebenwirkungen unsere Zukunft zerstören. Das ist aber leider alles andere als trivial und es setzt voraus, dass derjenige, der die KI baut, sich des Problems bewusst ist und langfristig denkt. Womit wir wieder bei menschlicher Gier, Arroganz und Dummheit wären ...

  • #5

    Heinrich (Freitag, 13 November 2020 22:17)

    @Karl,
    dann ist die ganze Angelegenheit für mich so klar wie Kloßbrühe!
    Ich habe einen ausgekuckt, der genau diese von Dir beschriebene menschen- und klimafreundliche KI baut.
    Also, mach Dich an die Arbeit. ;)
    Gruß Heinrich

  • #6

    Karl Olsberg (Samstag, 14 November 2020 12:18)

    @Heinrich: Gar kein Problem! Die menschen- und klimafreundliche KI ist sogar schon fertig! In meinem nächsten Roman ... :)

  • #7

    Heinrich (Mittwoch, 18 November 2020 20:46)

    gibt es schon einen Termin?