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Wie Rationalität die Welt rettet

Menschen handeln von Natur aus oft irrational. Schuld daran sind „Abkürzungen“ in unserem Gehirn, mit denen wir Entscheidungen impulsiv auf Basis von Millionen Jahre alten Faustregeln treffen, statt gründlich darüber nachzudenken. Politiker und Marketingmanager wissen das und beeinflussen unser Verhalten, indem sie diese archaischen Impulse gezielt aktivieren. Dabei folgen sie aber selbst bloß ihren eigenen irrationalen Neigungen, insbesondere der unersättlichen Gier nach Macht und Geld. Die Folgen sind dramatisch – von Klimawandel und Umweltzerstörung über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit bis hin zu totalitären Regimes und verheerenden Kriegen.

Ganz neu ist das Problem allerdings nicht. Die Evolution hat uns für ein Leben als Jäger und Sammler in der nordafrikanischen Steppe in Sippen von bis zu 150 Individuen optimiert. In dieser Umgebung funktionierten unsere Impulse immerhin so gut, dass wir als Spezies lange genug überlebt haben, um sesshaft zu werden. Doch damit veränderten sich unsere Umwelt und die Anforderungen an unser Verhalten dramatisch. Als vor etwa zehntausend Jahren die ersten Städte entstanden und plötzlich nicht mehr 150, sondern mehrere tausend Menschen auf engem Raum zusammenlebten, waren Konflikte unausweichlich. Doch wir haben Wege gefunden, diese Konflikte zumindest ansatzweise zu lösen und eine Eskalation der Gewalt zu vermeiden. Es gibt heute immer noch viel zu viel sinnloses Blutvergießen, aber in eine Großstadt zu ziehen bedeutet nicht automatisch, auf der Straße überfallen oder von seinem Nachbarn wegen eines Streits getötet zu werden. Wir verhalten uns nach wie vor irrational und führen schreckliche Kriege, aber trotz immer verheerenderer Massenvernichtungswaffen haben wir als Spezies bis heute überlebt.

Wie haben wir das geschafft? Sind die Menschen im Laufe der letzten Jahrhunderte schlauer geworden? Sind wir mit den Herausforderungen gewachsen und irgendwie zu besseren Menschen mutiert?

Leider nein. Unsere Gehirne unterscheiden sich so gut wie gar nicht von denen unserer Vorfahren. Auch Bildung und Wissenschaft sind nicht die Lösung des Rätsels, denn Massenmörder und Diktatoren sind ebenfalls in die Schule gegangen und benutzen moderne Technologien für schändliche Zwecke. Doch es ist uns gelungen, einen Mechanismus zu konstruieren, der unsere evolutionären Impulse zumindest teilweise im Zaum halten und unseren Hang zur Selbstzerstörung bremsen kann. Dieser Mechanismus ist unser Rechtssystem. Und die Basis jedes Rechtssystems – selbst in einer Diktatur – ist Rationalität.

Was heißt Rationalität eigentlich genau? Viele Menschen verstehen darunter eine kalte, nüchterne, gefühllose Handlungsweise. Doch Rationalität und Emotion sind kein Gegensatz. Im Gegenteil: Rationalität ohne Emotion ist ziellos, Emotion ohne Rationalität wirkungslos.

Rationalität bedeutet nach meiner pragmatischen Definition das „Ausrichten der eigenen Entscheidungen so gut wie möglich an der Wirklichkeit“. Das Gegenteil von Rationalität ist demnach nicht Emotionalität, sondern Wunschdenken und Realitätsverleugnung. Wenn uns unsere Emotionen sagen, was wir wollen, dann zeigt uns rationales Denken, wie wir es bekommen können. Lassen wir uns dagegen von unseren Emotionen mitreißen, dann erreichen wir in der heutigen Welt oft das Gegenteil dessen, was wir eigentlich wollen – obwohl dieses Wollen wiederum emotional bedingt ist.

Wenn wir unsere selbstzerstörerischen Impulse nicht ändern können, dann brauchen wir einen Trick, um sie einzudämmen. Das kann man auf der individuellen Ebene zum Beispiel durch Entspannungstechniken oder Meditation erreichen. Allerdings fällt es uns schwer, während eines Wutanfalls zu meditieren – wir wollen uns dann gar nicht beruhigen, die Wut fühlt sich in diesem Moment genau richtig an, selbst wenn unser Verstand uns sagt, dass wir unsere Handlungen später bereuen werden. Deshalb hat es sich bewährt, ein System von Regeln zu schaffen, das unsere Impulse eingrenzt und uns daran hindert, „über die Stränge zu schlagen“, wie es bildhaft heißt. Das Boxen ist ein gutes Beispiel für ein solches System: Die beiden Kontrahenten nutzen ihre Wut aufeinander als Energiequelle, doch sie halten sich an Regeln, die dafür sorgen, dass normalerweise keiner der Kämpfer bleibende Schäden davonträgt.

Ein System von Regeln und Normen ermöglicht es uns, in großen Gruppen zusammenzuleben und zu arbeiten. Wichtig dabei ist, dass diese Regeln und Normen nicht impulsgesteuert, sondern rational sind. Das bedeutet, sie orientieren sich an realen Fakten, nicht an Gefühlen oder Vorlieben. Der Ringrichter entscheidet nicht auf der Basis seiner Sympathie für die Kontrahenten, sondern anhand von Tatsachen, die gegebenenfalls von neutralen Dritten überprüft werden können (z.B. anhand einer Videoaufzeichnung). Genau das bedeutet Rationalität.

Das Interessante daran ist, dass alle drei Beteiligten – die beiden Boxer und der Ringrichter – ganz normale Menschen mit ihrer ganz normalen unersättlichen Gier nach Geld, Macht und Ruhm sind. Die Boxer sind in der Hitze des Gefechts oft so wütend, dass sie einander womöglich töten würden, wenn es keine Regeln und keine Zeugen gäbe. Doch das System der Boxregeln führt dazu, dass die Instinkte überwunden werden und normalerweise niemand stirbt. Die Boxer und der Ringrichter bilden gemeinsam eine Art Überwesen, das zwar innerlich Konflikte austrägt, nach außen aber völlig friedlich agiert. Die Zuschauer in unmittelbarer Nähe des Boxrings müssen keine Angst haben, plötzlich in die Auseinandersetzung hineingezogen zu werden.

Ein System von Regeln auf der Basis des Rationalitätsprinzips kann unsere Aggression eindämmen, unsere Gier zügeln und für mehr Gerechtigkeit und nachhaltiges Verhalten sorgen. Wir können gemeinsam ein übergeordnetes, rationales System schaffen, das vernünftiger agiert als seine Teilnehmer. Wenn sich sogar zwei Boxer in der Hitze des Gefechts zusammennehmen können, weil es einen Ringrichter und harte Strafen bei Fehlverhalten gibt, dann gilt das auch für alle anderen Bereiche, in denen unsere ungezügelten Triebe sonst verheerende Auswirkungen hätten. Ein Beispiel dafür sind die aktuellen Beschränkungen angesichts der Corona-Pandemie, die zwar für jeden von uns unangenehm sind, an die sich aber die weitaus meisten halten. Ohne dieses Prinzip hätten wir als Spezies wohl kaum bis heute überlebt, geschweige denn eine globale Zivilisation aufgebaut.

Warum gibt es dann trotzdem immer noch Kriege, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung? Kein Regelsystem kann jemals perfekt sein. Aber das größte Problem ist, dass ursprünglich rationale Regelsysteme unterwandert und missbraucht werden können.  Ein Beispiel dafür ist Korruption: Wenn der Ringrichter bestochen ist, kann einer der Kontrahenten ungestraft Regelverletzungen begehen oder einen unfairen Vorteil bei der Wertung erlangen. In diesen Fällen ist das Rationalitätsprinzip ausgehebelt: Der Ringrichter entscheidet nicht mehr auf der Basis von überprüfbaren Fakten, sondern getrieben von seiner eigenen Gier.

Dasselbe geschieht, wenn ein Möchtegern-Diktator versucht, die Macht in einer Demokratie an sich zu reißen. Er folgt dabei seiner impulsiven Gier nach Macht, Ruhm und Reichtum und versucht, sich über das rationale Regelsystem hinwegzusetzen. Es ist typisch für solche Situationen, dass dabei nicht nur das Rationalitätsprinzip verletzt wird, sondern die Realität systematisch mit einem Teppich von Lügen, Halbwahrheiten und haltlosen Behauptungen überdeckt wird. Trumps Versuch, die amerikanische Demokratie mit der Lüge eines angeblichen Wahlbetrugs zu zerstören, ist ein Beispiel dafür. Wir können alle froh sein, dass er und sein Anwalt Giuliani dabei äußerst dilettantisch vorgegangen sind und nicht so clever agiert haben wie andere Diktatoren zuvor.

Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Rationalität das beste Gegenmittel gegen jede Form von Machtmissbrauch ist. Das gilt auch für den Einsatz von KI. Wir brauchen nicht nur Regeln, an die sich KIs halten müssen, sondern vor allem auch ein rationales Regelsystem, das Missbrauch durch die Schöpfer und Nutzer von KIs eindämmt.

Wir alle können dazu beitragen, indem wir

  • das Rationalitätsprinzip auf uns selbst anwenden und zum Beispiel Informationen in sozialen Medien, aber auch unsere eigenen Vorurteile und Denkweisen kritisch hinterfragen
  • das Rationalitätsprinzip gegen die zahlreichen Anfeindungen von verschiedenen Seiten (etwa Esoterikern, Verschwörungstheoretikern, Demagogen, religiösen Fanatikern etc.) verteidigen
  • aktiv für den Erhalt eines rationalen politischen Regelsystems eintreten und uns an demokratischen Prozessen beteiligen
  • allen Versuchen entschlossen entgegentreten, unser rationales demokratisches Regelsystem zu unterhöhlen
  • Machtballungen, z.B. auch Monopole im Technologiebereich, möglichst unterbinden
  • für das Rationalitätsprinzip werben und es anderen vermitteln (was ich mit diesem Beitrag versuche).

Es gibt nur eine Wirklichkeit. Das Rationalitätsprinzip bedeutet, dass wir unsere Entscheidungen an dieser einen Wirklichkeit ausrichten und uns nicht von unseren evolutionären Impulsen zu kurzsichtigem, selbstzerstörerischem Handeln verleiten lassen. Da Selbstbeherrschung hier nur begrenzt hilft, brauchen wir ein stabiles demokratisch legitimiertes System von rationalen Regeln, das unsere schädlichen Impulse eindämmt. Nur, wenn wir ein solches System global fördern und aufrechterhalten, haben wir eine Zukunft.


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Kommentare: 6
  • #1

    Det Kahs (Montag, 21 Dezember 2020 21:02)

    Noch einmal: Großes Kompliment! Für Ihre sehr inspirierenden Zeilen- Dank Ihrer mindestens für Ihre stets klar benannten und deshalb für mich leicht und logisch herleitbaren konstruktiven Schlussfolgerungen (Klasse: Bis hin zu Trump`s derzeitigem Irr-GLAUBEN ff.)
    Ich frage mich gerade*: Wie könnte "man" all dies praktisch nutzbringend "auf die Strasse bringen", sodass Irrationalität lösungsorientiert angewandt werden kann? [> z.B. Praxistransfer à la "The rational Club" aus 1949 - 1958 - wie müsste/ könnte dieser wohl heute gestatet sein?]
    Ich bleibe "dran", so oder so- vielen Dank!
    Danke für Ihre Gedanken und viele Grüße aus Bremen!

  • #2

    Karl Olsberg (Dienstag, 22 Dezember 2020 10:53)

    @Det Kahs: Sie stellen eine gute Frage, auf die ich leider keine gute Antwort habe. Ich denke, das Rationalitätsprinzip auf seine eigenen Entscheidungen anzuwenden und mit Andersdenkenden zu reden, statt sie auszugrenzen oder abzuwerten, hilft schon einmal.

    Sie erwähnen "The rational Club" aus der Nachkriegszeit. Im Web habe ich darüber nichts gefunden, außer einem Hinweis auf eine 1890 von einer Ärztin gegründete Organisation, die sich gegen Korsetts und andere gesundheitsgefährdende Moden der damaligen Zeit wendete (das war jedenfalls eine sinnvolle Praxisanwendung rationalen Denkens). Können Sie mir eine Quelle nennen?

  • #3

    Heinrich (Freitag, 25 Dezember 2020 21:55)

    Hallo Karl,
    vielleicht meint er das hier?
    https://users.sussex.ac.uk/~philh/pubs/Ratio2.pdf
    The club met regularly from 1949-1955, with one final reunion meeting in 1958
    Gruß Heinrich

  • #4

    Karl Olsberg (Samstag, 26 Dezember 2020 08:15)

    @Heinrich: Das ist auf jeden Fall interessant. Vielen Dank für den Tipp!

  • #5

    Det Kahs (Mittwoch, 30 Dezember 2020 20:12)

    Hallo zusammen,
    sorry ich war einige Tage offline- ich meinte dies hier: https://en.wikipedia.org/wiki/Ratio_Club
    "The Ratio Club was a small British informal dining club from 1949 to 1958 of young psychiatrists, psychologists, physiologists, mathematicians and engineers who met to discuss issues in cybernetics."
    Sorry, mein Fehler war, dass ich inspiriert duch Ihren Artiekl ein "L" an den Club hängte...
    Hintergrund: Ich bin bekennender Kybernetik-Fan, "ff.".
    So stieß ich beim Surfen übrigens auch auf Ihre Seiten (glaube ich), Herr Ohlsen.
    Ich schaue in ein paar Tagen hier wieder vorbei- vielleicht stellen wir ja etwas gemeinsames -wenn auch Ideen- auf die Beine?
    Weiter so!
    Ich wünsche Ihnen und allen Leser*innen einen guten Rutsch in ein spannendes 2021!
    Herzliche Grüße
    DK

  • #6

    Karl Olsberg (Donnerstag, 31 Dezember 2020 12:22)

    @Det Kahs: Vielen Dank und auch Ihnen einen guten Start in ein "normales" Jahr 2021 ("spannend" war 2020 ja schon genug ;).